Muss ich denn schon wieder verreisen?
schloß sofort wieder die Tür.
»Hast du das Untier aufgespießt?«
»Sehe ich so aus?«
»Ja. Du bist ziemlich blaß um die Nase herum.«
»Was es war, weiß ich nicht, aber so einen großen Käfer habe ich noch nie gesehen.«
»Dann wird es wohl eine Kakerlake gewesen sein«, sagte Irene gleichmütig.
»Was?«
»Die gibt es doch in fast jedem Hotel, läßt sich gar nicht verhindern. Meistens bleiben sie im Küchentrakt, doch manchmal verirrt sich eine nach oben, wahrscheinlich über die Rohrleitungen. In den seltensten Fällen kriegt man sie überhaupt zu Gesicht, weil sie extrem lichtscheu sind.«
Woher wußte sie das schon wieder? »Dann lassen wir eben die Lampe im Bad brennen.«
»Und wenn das Tierchen unter dem Türspalt in unser dunkles Zimmer krabbelt?« fragte sie hinterhältig.
»In diesem Fall verlange ich mein Geld wegen Beeinträchtigung der Nachtruhe oder so ähnlich zurück.«
»Das kannst du erst bei zehn Kakerlaken pro Quadratmeter«, entgegnete Irene, und als sie mein ungläubiges Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Kein Scherz, das habe ich erst unlängst gelesen.«
»Mir reicht die eine. Und du gehst jetzt gefälligst ins Bad und guckst nach, ob das Vieh wieder da ist! Ich will mir die Zähne putzen.«
Die Kakerlake, oder was immer das war, blieb verschwunden und tauchte erst in der Nacht wieder auf, als Irene, lauthals schimpfend die mangelhafte Wirkung der Kohletabletten verwünschend, die Toilette aufsuchte. Ich hörte sie »Hallo, Naomi!« rufen, dann schloß sich die Tür.
Nun ist es zwar in meiner Familie durchaus üblich, sogar leblosen Gegenständen mitunter einen Namen zu geben, doch Ungeziefer haben wir noch niemals getauft! Ich hatte es schon etwas albern gefunden, daß Sven seine Schildkröte Lady Curzon genannt hatte, aber einige Jahre später hatte uns Sascha sein erstes Auto als Püppi vorgestellt, meine sehr kurzlebige Rostlaube hatte den Namen Hannibal bekommen, und mit ihrer Nilpferd-Sammlung hält Steffi es wie Hundezüchter mit den Stammbäumen ihrer Welpen: Jeder Zuwachs rückt im Alphabet einen Buchstaben weiter. Jetzt ist sie schon bei L = Lieselotte angekommen.
Die letzte Taufe in unserem Haus fand statt, als ein guter Bekannter meine Behauptung »Ich liiiieeeebe Gartenzwerge!« für bare Münze nahm und mir so eine zipfelmützige Scheußlichkeit neben die Haustür stellte. Nun steht Kurti unter der Tanne, wo ihn niemand sieht.
Von Irene wußte ich nur, daß sie ihren Vierbeinern etwas seltsame Namen verpaßt, übrigens ausnahmslos Findelkinder, die sie schon aus Mülltonnen gerettet oder am Straßenrand aufgelesen hatte. Die beiden Bürokatzen heißen Ebert und Noske, ihre Hauskatze hatte sie Motten-Malwe genannt, weil damals in einem sehr räudigen Zustand Asyl suchend (jetzt heißt sie Malwine), und der letzte Zugang trug eine Zeitlang den Namen Feline; wurde jedoch später aus biologischen Gründen in Fritz umgetauft.
Nun hatten wir also Naomi, unsere ganz persönliche Kakerlake. Ich habe sie nur noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, als ich vergessen hatte, vor dem Betreten des Badezimmers laut mit dem Fuß aufzustampfen. Angeblich mögen Kakerlaken keine Erschütterungen. Allerdings bin ich nie den Verdacht losgeworden, daß unserer Mitbewohnerin mein hysterischer Aufschrei bei unserer ersten Begegnung noch in den Fühlern steckte und Naomi türmte, sobald sie meinen Schritt spürte. Bei Irene blieb sie nämlich sitzen. Überlegungen, das niedliche Tierchen durch regelmäßige Fütterungen zutraulich zu machen, scheiterten an Irenes Unkenntnis über die Ernährungsgewohnheiten von Kakerlaken. Ich muß jedoch zugeben, daß sie Naomis Übersiedlung nach Berlin nie ernsthaft in Erwägung gezogen hat!
Unser morgendlicher Auftritt im Speisesaal, normalerweise mit scheelen Blicken registriert, wurde diesmal gar nicht beachtet. Neben der Tür stand nämlich Frau Marquardt und verabschiedete einen gutaussehenden Mann, unverkennbar arabischer Herkunft. Das ging nun doch entschieden zu weit! Hatte man ihre Abwesenheit in Tiberias noch großmütig toleriert und nur heimlich über die Gründe spekuliert, so war man jetzt nicht mehr bereit, irgendwelche Entschuldigungen zu akzeptieren. Dabei kamen gar keine! Nach einem unverfänglichen Küßchen auf die Wange verschwand der Stein des Anstoßes, Frau Marquardt wünschte uns fröhlich einen guten Morgen und ging zur Tagesordnung über. Sie bediente sich ausgiebig am Frühstücksbüfett.
»Jetscht dreibt
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