Muster - Steffen-Buch
und schleppte mich in die Küche, wo ich dann im Schlafanzug zitternd vor ihr stand. Sie schlug mich so hart, dass ich von einer Seite der Küche zur anderen geschleudert wurde. Eine meiner Verteidigungs-taktiken bestand darin, mich auf den Boden fallen zu lassen und so zu 32
tun, als hätte ich keine Kraft aufzustehen. Das brachte jedoch nicht viel.
Mutter zog mich an den Ohren hoch und brüllte mich minutenlang an, wobei mir ihr Whiskeyatem ins Gesicht schlug. In diesen Nächten war ihre Botschaft immer dieselbe: Ich war der Grund dafür, dass sie und Vater Probleme miteinander hatten. Ich war oft so müde, dass mir die Beine wegknickten. Meine einzige Rettung bestand darin, auf den Boden zu starren und zu hoffen, dass Mutter bald die Puste ausging.
Als ich in der zweiten Klasse war, bekam Mutter ihr viertes Kind.
Meine Klassenlehrerin Miss Woods begann, auf mich aufmerksam zu werden. Sie fragte mich zunächst, warum ich im Unterricht so unkonzentriert sei. Ich log, dass ich lange aufgeblieben sei und ferngesehen hätte. Meine Lügen klangen jedoch nicht überzeugend und sie fuhr fort, mich mit Fragen zu löchern. Sie wollte nicht nur wissen, warum mir im Unterricht die Augen zufielen, sondern auch, warum meine Kleider in so einem schrecklichen Zustand wären und wo ich mir all die blauen Flecken geholt hätte. Mutter fütterte mich immer mit Geschichten, die ich auftischen sollte, und diese gab ich dann einfach an meine Lehrerin weiter.
Die Monate verstrichen und Miss Woods wurde immer hartnäckiger. Eines Tages weihte sie schließlich den Direktor ein und berichtete ihm von ihren Beobachtungen. Er kannte mich gut als den Jungen, der Essen stahl, und so rief er Mutter wieder an. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, war es, als wäre eine Atombombe in unser Haus eingeschlagen. Mutter war brutaler denn je. Sie war fuchsteufelswild, dass irgend so eine »Hippie«-Lehrerin sie wegen Kindesmisshandlung drankriegen wollte. Mutter sagte, sie würde am nächsten Tag zum Direktor gehen, um alle falschen Anschuldigungen zu widerlegen. Als sie mit mir fertig war, hatte ich Nasenbluten und mir fehlte ein Zahn.
Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, strahlte Mutter so, als hätte sie eine Million im Lotto gewonnen. Sie erzählte mir, dass sie sich fein gemacht hatte und mit meinem jüngsten Bruder Russel auf dem Arm, der erst einige Monate alt war, zum Direktor marschiert war. Sie hatte dem Direktor erklärt, ich hätte eine blühende Phantasie. Ich hätte mir seit der Geburt von Russel oft selbst Verletzungen zugefügt, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie ihren schlangenartigen Charme herausgekehrt und Russel liebkost hatte, um dem Direktor ihre Show glaubhaft zu machen. Am Ende des Gesprächs hätte sie gesagt, dass sie mehr als glücklich sei, mit der Schule zu 33
kooperieren, sie könnten sie jederzeit anrufen, wenn es ein Problem mit mir gäbe. Der Direktor, so Mutter, hätte alle in der Schule angewiesen, meinen wilden Geschichten über Schläge und Essensentzug keine Beachtung zu schenken. Während ich mir ihre Prahlereien anhörte, überkam mich ein Gefühl absoluter Leere. Ich spürte, dass sie sich nach diesem Besuch beim Direktor mir gegenüber stärker fühlte als je zuvor, und darum fürchtete ich um mein Leben. Ich wünschte mir, ich könnte mich unsichtbar machen und nie wieder auftauchen. Ich wünschte mir, ich müsste nie wieder einem anderen Menschen gegenübertreten.
In diesem Sommer machte meine Familie wieder Ferien am Russian River. Wenngleich ich zunächst besser mit Mutter klar kam als sonst, hatte dieser Ort seinen magischen Zauber für mich verloren. Die Fahr-ten auf dem Heuwagen, das Würstchengrillen und das Geschichtenerzählen gehörten der Vergangenheit an. Wir verbrachten immer mehr Zeit im Blockhaus. Selbst die Tagestouren zum Johnson's Beach unternahmen wir nur noch selten.
Vater versuchte, uns eine Freude zu machen, indem er mit uns gelegentlich zu der neuen Superrutsche ging. Russel, der noch ein Baby war, blieb mit Mutter im Blockhaus. Eines Tages, als Ron, Stan und ich bei einem benachbarten Blockhaus spielten, kam Mutter auf die Veran-da und brüllte, dass wir sofort hereinkommen sollten. Drinnen schalt sie mich, dass ich zu viel gelärmt hätte. Zur Strafe dürfe ich nicht mit Vater und meinen Brüdern zur Superrutsche gehen. Ich saß zitternd auf einem Stuhl in der Ecke und hoffte, die drei würden wie durch ein Wunder nicht gehen. Ich
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