Mustererkennung
Getränk jedoch beäugt sie argwöhnisch. Die Frau zeigt darauf und bringt eine einzige Silbe hervor.
Cayce findet, daß das Zeug ein bißchen wie Bikkle schmeckt.
Wie Bio-Bikkle.
Als sie fertig ist und den Becher wieder auf das Tablett gestellt hat, wird sie mit einem weiteren Einsilber belohnt, neutral im Ton. Die Frau nimmt das Tablett, geht zur einzigen, übrigens elfenbeinfarbenen, Tür im Raum, öffnet sie, geht hinaus und zieht sie hinter sich ins Schloß.
Bedingt durch den Standort ihres Bettes hat Cayce nicht sehen können, was sich jenseits dieser Tür befindet, doch nach der üblichen Krankenhausgeographie zu urteilen, müßte es eigentlich ein Korridor sein.
Sie richtet sich auf, entdeckt, daß sie ein hinten offenes Krankenhaushemd trägt, allerdings aus dünnem, extrem häufig gewaschenem Flanell mit einstmals rosa-gelbem Clownsmuster auf blaßblauem Hintergrund.
Auf einmal verdunkelt sich die Deckenbeleuchtung, ohne jedoch ganz auszugehen.
Cayce schlägt die Zudecke zurück, stellt fest, daß sie an beiden Oberschenkeln eine beträchtliche Menge blauer Flecke hat, und schwingt die Beine über die Bettkante. Sie befürchtet, daß das Aufstehen ein schwieriges Experiment werden könnte, aber es geht ganz gut.
Das Zimmer, oder der Krankensaal, hat einen nahtlosen grauen, leicht körnigen Bodenbelag.
Sie tritt mit beiden Füßen auf und findet jetzt die »Magneten« der Handtuchübungen beim Pilates, die Konzentrations—punkte, zieht die Beinmuskeln zusammen zur inneren isometri—schen Ausrichtung. Macht die Wirbelsäule so lang wie möglich.
Ein Schwindelanfall. Sie wartet, bis er vorbei ist. Sie probiert, Wirbel für Wirbel nach vorn abzurollen, und geht dabei langsam in die Knie, bis sie mit baumelndem Kopf dahockt …
Da liegt irgendwas unterm Bett. Was Schwarzes.
Sie erschrickt.
Langt hin. Ihr Boardcase. Mit offenem Reißverschluß, die zusammengeknüllten Kleider quellen hervor. Sie tastet, findet ihre Jeans, den Pullover, die kalte, glatte Nylonhaut der Rickson. Aber die Stasimappe fehlt, ebenso die Luggage-Label-Tasche. Kein Handy, kein iBook, keine Geldbörse, kein Paß.
Ihre Parcostiefel stecken flach zusammengelegt in einer der Außentaschen.
Sie steht auf und findet das Bändchen hinten am Hals, das sie von dem hinternfreien Clownsnachthemd befreit. Steht nackt im grünlich fluoreszierenden Schummerlicht, beugt sich vor und kramt in ihren Sachen. Sie findet keine Socken, aber Un—terhosen, Jeans, ein schwarzes T-Shirt, das muß reichen. Sie setzt sich auf die Krankenhausbettkante und will sich gerade die Parcostiefel zubinden.
Da dämmert ihr, daß die Tür natürlich abgeschlossen sein wird. Geht ja gar nicht anders.
Geht doch. Der institutionale Daumendruckknopf läßt sich mühelos drücken. Sie merkt, wie die Tür sich sachte in den Angeln bewegt. Öffnet sie.
Korridor ja, Krankenhaus nein. Gymnasium?
Eine Wand mit Schließfächern in blassem Türkis, an jedem ein Schildchen mit einer dreistelligen Nummer drauf. Sofittenbeleuchtung. Korkfarbener Kunststoffboden.
Ein Blick nach links: Der Korridor endet an einer braunen Feuertür. Ein Blick nach rechts: Glastür mit Push-Bar, Sonnenlicht.
Einfache Entscheidung.
Hin-und hergerissen zwischen dem Wunsch zu rennen und dem Wunsch, möglichst für jemand gehalten zu werden, der befugt ist, sich hier aufzuhalten, wo und was »hier« auch immer sein mag, versucht sie die Tür aufzumachen und ganz normal hinauszugehen.
Die Sonne blendet sie. Die Luft riecht nicht nach Moskau, sondern nach Sommervegetation. Cayce beschattet ihre Augen mit dem Unterarm und geht auf eine im gleißenden Licht nur zu erahnende Statue zu. Lenin, aerodynamisch bis zur Kontur—losigkeit, in weißem Beton, mit ausgestrecktem Zeigefinger, wie ein gigantischer marxistischer Lawn Jockey.
Sie dreht sich um und schaut zurück. Es sieht aus, als ob sie gerade aus dem häßlichen orangefarbenen Klinkerbau eines Community Colleges kommt, einem Bauwerk, dessen schmük-kenden oberen Abschluß eine Betonkonstruktion bildet, ähnlich der Krone der Freiheitsstatue, mit Fenstern zwischen den hoch aufragenden Zacken.
Cayce hält sich nicht lange mit einer weiteren Besichtigung des Geländes auf. Sie sieht einen mit verdorrtem Gras bewach-senen Hang und einen holperigen Trampelpfad, folgt diesem und gelangt in eine flache Schlucht oder Rinne, wo sie von dem Gebäude aus nicht mehr zu sehen ist.
Das gelbe, niedergetrampelte Gras auf dem Pfad ist mit
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