Mustererkennung
an einem anderen Tisch.
»Welcher Kuß?« Reflex.
Bigend greift in den Regenmantel, den er nicht abgelegt hat, und zieht ein schmuckes mattsilbernes Zigarettenetui heraus.
Als er es auf den Tisch legt, entpuppt es sich als Titan-DVD-Spieler, der sich wie von selbst öffnet, während Bigend mit einem leichten Fingertippen #135 auf den Schirm holt. Sie verfolgt den Kuß, sieht dann Bigend an. »Dieser Kuß«, sagt er.
»Was genau möchten Sie wissen?« schindet sie Zeit.
»Ich möchte wissen, welchen Stellenwert er in Ihren Augen hat, ausgehend von den bisherigen Uploads.«
»Da wir über seinen Platz in einem hypothetischen Handlungsablauf nur spekulieren können, weiß ich nicht, wie man seinen Stellenwert beurteilen sollte.«
Er stellt den DVD-Spieler ab, klappt ihn zu.
»Das war nicht meine Frage. Meine Frage bezieht sich nicht auf einen möglichen Handlungsablauf, sondern auf die bisher hochgeladenen Segmente und ihre Reihenfolge.«
Cayce ist es nicht gewohnt, so an die Clips heranzugehen, obwohl sie darin den Ansatz einer exotischen Häretikerfraktion des F:F:F wiedererkennt. Sie glaubt zu ahnen, worauf Bigend hinaus will, beschließt aber, sich dumm zu stellen. »Aber es ist doch eindeutig keine logische Erzählfolge. Entweder die Segmente wurden willkürlich hochgeladen –«
»Oder ganz gezielt, um die Illusion des Willkürlichen zu erzeugen. Wie auch immer, diese Clips sind bereits jetzt die erfolgreichste Guerilla-Marketing-Aktion aller Zeiten. Ich habe die Besucherzahlen der Fan-Sites verfolgt und geprüft, wo sonst noch die Rede davon ist. Die Zahlen sind verblüffend. Ihre Freundin in Korea –«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sämtliche Sites durchchecken lassen. Um ehrlich zu sein, wir beobachten sie ständig. Ihre Beiträge gehören zum Brauchbarsten, was wir gefunden haben. ›CayceP‹ – wenn man die Szene ein bißchen kennt, können das doch nur Sie sein. Ihr Interesse an diesen Clips ist also in öffentlich zugänglicher Form dokumentiert, und Interesse heißt in diesem Fall – in welchem Maß auch immer – Zugehörigkeit zu einer Subkultur.«
Die Vorstellung, daß sich Bigend oder seine Leute im F:F:F
herumtreiben, ist gewöhnungsbedürftig. Das Forum war so was wie ein zweites Zuhause, aber Cayce war immer klar, daß man dort auch irgendwie auf dem Präsentierteller ist. Es kam ihr vor wie das Wohnzimmer eines Freundes, war jedoch trotz allem eine Art textbasierte Web-Cam-Site, zugänglich für jeden, der sich die Mühe machte, sie aufzusuchen.
»Hubertus«, sagt sie vorsichtig, »welcher Art ist Ihr Interesse an dieser Sache?«
Bigend lächelt. Er sollte lernen, das zu unterlassen, denkt sie, ansonsten sieht er ja unbestreitbar gut aus. Oder gibt es vielleicht Kieferchirurgen, die Gebißverkleinerungen vornehmen?
»Ob ich ein wahrer Fan bin? Das ist Ihre erste Frage, weil Sie selbst einer sind. Sie sind aufrichtig begeistert von diesen Clips.
Das geht aus Ihren Postings klar hervor. Und genau das macht Sie so wertvoll. Das und Ihre besonderen Gaben, Ihre Allergien, Ihre domestizierten Idiosynkrasien, diese Dinge, die Sie in der Marketingwelt zu einer heimlichen Legende machen. Aber ich?
Bin ich ein wahrer Fan? Meine Passion sind Marketing, Werbung, Medienstrategien, und als ich auf diese Clips stieß, ist diese Seite von mir darauf angesprungen. Glauben Sie vielleicht, das würde mich nicht faszinieren? Die brillanteste Marketing-Strategie dieses jungen Jahrhunderts? Und so neuartig. Irgendwie absolut neu.«
Sie konzentriert sich auf die Bläschen, die in ihrem kaum angerührten Bier aufsteigen. Versucht sich an alles zu erinnern, was sie über Bigends Geschichte gehört oder gegoogelt hat: der Vater ein Industrieller in Brüssel, Sommerferien in der elterli-chen Villa in Cannes, die konservative, aber über exzellente Verbindungen verfügende Internatsschule in England, Harvard, der Abstecher in die Independent-Filmproduktion in Hollywood, eine Art kurzer Selbstfindungsphase in Brasilien, der Aufstieg von Blue Ant, zuerst in Europa, dann in Großbritannien und New York.
Stoff für Lifestyle-Artikel, von denen sie etliche gelesen hat.
Dazu Margots Erfahrungen, an denen Cayce teilhatte, aus zweiter Hand zwar, aber in Echtzeit. Das alles ist schwer damit zusammenzubringen, daß Bigend auch zu den Clip-Süchtigen gehört, aus irgendeinem Grund, über den sie lediglich spekulieren kann. Wobei sie merkt, daß sie anfängt, darüber zu spekulieren, und das Ergebnis
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