Mustererkennung
Tisch, was unter diesen Umständen wohl nicht jeder schaffen würde, und ihr fällt wieder ein, was ihre New Yorker Freundin als eins der Gegengewichte zu seiner Lombardität angeführt hat: Nirgends warten müssen.
Es liegt vermutlich nicht daran, daß man ihn hier kennt, sondern an irgendeinem Codezeichen in seinem Auftreten, das die Leute lesen können. Er trägt einen Cowboyhut, einen fahlbraunen Regenmantel im altmodischen Jagdmantelschnitt, graue Flanellhosen und Tony-Lama-Stiefel – ein modemäßiges Signal dürfte es also kaum sein.
Eine Serviererin nimmt ihre Bestellung auf, für Cayce ein Holsten Pils, für Bigend einen Kir. Cayce mustert ihn über einen Bistrotisch und ein winziges Schwimmdocht-Lämpchen hinweg. Er nimmt den Hut ab und sieht in dem Moment plötzlich sehr belgisch aus, als müßte der Stetson eigentlich ein Fedora sein.
Ihre Getränke kommen, er zahlt mit einem knisternden
Zwanzig-Pfund-Schein aus einem Ungetüm von Brieftasche, in dem vor allem unwirklich aussehende große Euro-Scheine
stecken.
Die Bedienung gießt Cayces Bier ein, Bigend läßt das Wech—selgeld auf dem Tisch liegen.
»Müde?« fragt er.
»Jetlag.« Sie reagiert automatisch, als er sein Glas erhebt. Bier klirrt gegen Kir.
»Davon schrumpfen die Stirnlappen. Physisch. Schon gewußt? Kann man per Computertomographie eindeutig nach—weisen.«
Sie zuckt zusammen, schluckt ihr Bier runter. »Nein«, sagt sie. »Das ist, weil die Seele nicht mitkommt.«
»Sie haben vorhin schon von Seelen gesprochen.«
»Ach, ja?« Sie kann sich nicht erinnern.
»Ja. Glauben Sie dran?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich auch nicht.« Er trinkt von seinem Kir. »Sie können nicht so gut mit Dorotea?«
»Wer sagt das?«
»Bernard hat es so empfunden. Sie kann ziemlich schwierig sein.«
Cayce ist sich plötzlich der DDR-Mappe auf ihren Oberschenkeln bewußt. Sie ist ungewohnt schwer, das Gewicht ungleich verteilt, weil Cayce für irgendwelche nicht näher definierten Notfälle ihren kleinen Robotergirl-Totschläger eingesteckt hat.
»Ach, ja?«
»Verständlich. Wenn sie glaubt, Ihnen fällt etwas in den Schoß, worauf sie selber schon so lange scharf ist.« Es scheint, als hätten Bigends Zähne sich vermehrt. Oder metastasiert?
Seine kirfeuchten Lippen sind in diesem Licht sehr rot. Er wirft sich die dunkle Tolle aus den Augen. Jetzt, da Bigends Zweideu-tigkeit zu ihr durchgedrungen ist, sind all ihre sexuellen Alarmsysteme aktiviert. Geht es darum? Sieht Dorotea in ihr eine Rivalin um Bigends Gunst? Ist sie jetzt im Visier seines Begeh-rens, das, wie sie aus den Erzählungen ihrer Freundin Margot weiß, beständig und zugleich immer auf der Suche ist?
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Hubertus.«
»Das Londoner Büro. Sie denkt, ich will Ihnen die Leitung des Londoner Büros übertragen.«
»Das ist ja absurd.« Und das ist es, zu ihrer enormen Erleichterung, wirklich, denn Cayce ist niemand, dem man die Leitung eines Londoner Büros überträgt. Oder überhaupt irgendeine Leitungsfunktion. Sie ist hyperspezialisiert, eine Freelancerin, die man für eine ganz konkrete Aufgabe verpflichtet. Sie hat praktisch nie ein Gehalt bezogen. Sie ist ein Honorarmensch, eine leidenschaftliche Kurzzeit-Söldnerin, bar jeglicher Management-Skills. Vor allem aber ist sie erleichtert, daß es nichts Sexuelles ist. Oder daß er das zumindest zu signalisieren scheint. Sie fühlt sich von diesen Augen gefangen, zunehmend in irgend etwas hineingezogen.
Bigends Hand führt das Glas an seine Lippen. Er leert es. »Sie weiß, daß ich große Stücke auf Sie halte. Sie will zu Blue Ant, und sie ist scharf auf Bernards Position. Sie arbeitet schon lange darauf hin, H&P zu verlassen, schon bevor sie für den Kontakt mit uns zuständig war.«
»Das sehe ich nicht«, sagt Cayce und meint: Dorotea an Stonestreets Stelle. »Sie ist nicht gerade geschickt im Umgang mit Menschen.« Ein durchgeknalltes Luder, das ist sie. Eine, die Löcher in anderer Leute Jacken brennt und in fremde Wohnungen einbricht.
»Nein, natürlich nicht. Sie wäre die absolute Katastrophe.
Und ich bin hochzufrieden mit Bernard, schon vom ersten Tag an. Dorotea könnte zu denen gehören, die nicht durchkom—men.«
»Wo durch?«
»Es wird eng in unserer Branche. Wie in so vielen anderen auch. Es wird weniger echte Player geben. Es genügt nicht mehr, den coolen Werber zu mimen und eine gewisse Arroganz zu kultivieren.«
Cayce hat darüber auch schon nachgedacht
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