Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
hartnäckigen Rattern dazu gebracht loszulassen. Mich einzulassen. Auf mich. Und auf Levi. Und auf mich und Levi. Ohne zu wissen, wie wir aussteigen werden. Die Transsib ist ein konsequenter Schnitt mit dem Davor. Ohne eine Garantie auf das Danach. Und gerade deswegen der perfekte Reiseeinstieg für Levi und mich.
Sonia schlendert auf dem Weg zum Samowar an unserem Abteil vorbei und winkt. Levi dreht sich im Schlaf und seufzt. Draußen rattert zur Abwechslung mal ein Fluss vorbei.
Die Transsib ist wie eine Dusche: Sie hat alles weggespült, was störte. Für dieses Gefühl benutze ich gerne noch jahrelang Feuchttücher statt Duschgel zur Körperpflege. Wir sind jetzt bereit für die Reise. Ich fühle mich angenehm leer. Das Leben im Zug hat es geschafft, dass meine Zweifel und meine hoffnungsvolle Suche einem entspannten Nichts gewichen sind. Ich weiß nicht, was kommt. Ich will es noch gar nicht wissen. Denn es fühlt sich gut an.
Vor dem Abteil laufen die 5978 Mitglieder der russischen Jugendgruppe in Tarnanzügen im Stechschritt Richtung Restaurant: Essen fassen. Gruppendynamik in Uniform war mir schon immer unheimlich. Der gewalttätige Klang ihrer stampfenden Füße bringt die Vergangenheit Sibiriens als Strafkolonie in unseren Zug. Bestrafung für Andersdenkende. Abschneiden vom politischen und geistigen Leben des zentralistisch geführten Russlands. Auch deshalb heben die Reiseführer die künstlerische und kulturelle Atmosphäre in Irkutsk als Zentrum Westsibiriens hervor. Die Jugendgruppe läuft unabhängig davon, wer oder was sich ihnen in den Weg stellt, in unverändertem Tempo weiter. Zweimal konnte ich Levi nur knapp vor den alles zermalmenden Füßen retten. Im Gegensatz zu meinen gesamten bisherigen Erfahrungen sehe ich in diesen pickeligen Gesichtern unter kahl geschorenen Köpfen keine Regung von Bedauern oder Mitgefühl. Oder gar Interesse. Zudem höre ich von meinen Mitreisenden keinen einzigen Kommentar zu der Gruppe, auch nicht in Form von genervtem Augenverdrehen oder einer Geste in Richtung »notwendiges Übel«. Alle springen hektisch zur Seite, sobald die stampfende Schallwelle anrollt, und senken teilnahmslos den Blick, wenn sie durch unser Abteil schwappt. Scheint wirklich eine Elitetruppe zu sein.
Levi wacht auf. Wir kuscheln, bis Rita in unser Abteil hereinschneit und Levi zu einer Partie Handfußball einlädt. Sergei setzt sich zu mir in den Gang, und wir teilen die Tafel Schokolade, die ich gestern von Yulia erstanden habe.
Gemeinsam schauen wir auf die Birken. »Ich mag Birken«, sage ich zu Sergei. Der lacht und sagt: »Hast du russisches Blut in dir?«
Olga arbeitet sich mit dem Staubsauger durch den Gang und die Abteile, um den letzten Staub von Juris Schuhen wegzufegen. Sergei und ich schweigen gemeinsam dazu.
Ein Gedanke trifft mich wie ein Lichtstrahl, der sich durch die Wolkenpracht oberhalb der Birken gekämpft hat: Transsibirien entsteht nur, wenn man einige Zeit am Stück darin verbringt. Wenn man, wie es viele Touristen machen, abends einsteigt und am nächsten Morgen wieder aussteigt, um ein Heimatkundemuseum und einen sicher hübschen Platz zu besichtigen, dann zeigt Transsibirien sich nicht. Transsibirien scheint scheu. So scheu wie die Reisenden, die suchen.
Levi klettert auf meinen Schoß und erinnert mich daran, dass es Zeit wird, zu unserem letzten gemeinsamen Abendessen in Zug Nummer 10 aufzubrechen. Nach Ulan-Bator fahren wir in einem Zug mit dreistelliger Nummer. Je höher die Zahl, desto schlechter der Zug, habe ich im Reiseführer gelesen. Rossija , der Vorzeigezug Russlands, hat von Moskau in Richtung Wladiwostok die Nummer 1 und von Wladiwostok nach Moskau die Nummer 2.
Mittlerweile ist es stockdunkel. Levi schläft, und alle Taschen sind gepackt. Bei offener Abteiltür höre ich über Kopfhörer Musik und konzentriere mich aufs Atmen. Ich bin stolz darauf, wie selbstverständlich Levi und ich in der Transsib leben. Alles fließt im Rhythmus des Zuges. Ich spüre mich wieder. Als Mensch. Und als Mutter. Als die Mutter, die in mir steckt. Als die Mutter, die ich bin.
Im nächsten Moment schwebt eine Flasche Krimsekt an meiner geöffneten Abteiltür vorbei. Sie wackelt von rechts nach links. Gehalten von einer Hand mit langen rot lackierten Fingernägeln. Kurz darauf erscheint Sonias Kopf, eingerahmt von ihren kurzen braunen Haaren mit auf halber Stirnhöhe abgeschnittenem Pony, wie ich es bei zahlreichen Frauen in Sankt Petersburg auch gesehen
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