Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
mit einer maritimen Atmosphäre. Bilde ich mir das ein, oder höre ich tatsächlich Möwen? Der Entdeckergeist in mir setzt meinen Körper in Bewegung. Er hängt den Seesack über Levis Kinderwagen und lässt uns in entgegengesetzte Richtung des Pfeiles mit dem Schriftzug Ausgang laufen. Mit der einen Hand schiebe ich den Kinderwagen samt Levi und Seesack. Mit der anderen Hand ziehe ich die Tasche voller Windeln, Gläschen, Spielzeug, Bodys, Hosen und den paar Trekkingklamotten, die für mich noch Platz hatten. Mit so wenig Gepäck für mich war ich noch nie unterwegs. Ein Kraftakt. Wärmend. Zum Glück fragt niemand, ob er helfen kann.
Und dann sehe ich es: Das Wasser. Die Boote. Und die Möwen.
Der Bahnhof liegt direkt am Ufer der Angara. Eines Flusses, der breiter ist als Isar, Elbe und Rhein zusammen und den ich wider besseres Wissen leicht mit einem Arm oder einer Bucht des Baikalsees hätte verwechseln können. Auf dem Fluss tanzen kleine Wellen. Am gegenüberliegenden Ufer breitet sich die Innenstadt Irkutsks aus.
Auf den ersten Blick ist Irkutsk eine etwas angeschmuddelte Stadt mit herbem Industriecharme. Wären da nicht der strahlende Himmel, die glasklare Luft, das wunderbare Licht und die Möwen. Links endet mein Blick an einer Hochbrücke, von der einige Fußgänger gerade auf den Fluss hinabschauen. Rechts fällt mein Blick auf einen Park mit zum Wasser auslaufenden geschwungenen Treppenstufen aus Beton, auf denen Menschen die Herbstsonne genießen. Dazwischen überall Birken. Das Gras am Ufer ist schon ein wenig braun. Die Angara ist der einzige Fluss, der den Baikalsee verlässt, weiß der Reiseführer. Ich atme tief ein. Levi beobachtet mich. Ich lächle ihn an. Eine neue Etappe unserer Reise fängt gerade an.
So geht Moskau mit Wettbewerb um
»Julia?«, ruft eine leise und doch durchdringende Stimme. »Ich habe euch überall gesucht!« Ein deutlicher Vorwurf schwingt mit in diesem in militärischem Stakkato und auf Deutsch vorgetragenen Satz.
»Der Bahnhof, die Farben, alles ist wie von Zuckerguss überzogen«, lache ich der Stimme entgegen.
»Zuckerguss?«, fragt die Stimme, die einer Frau um die 55 gehört, die in einer hellbraunen Cordhose und einem olivgrünverwaschenen Parka steckt. Ihr fahles Gesicht ist von braunem kurzem Haar umrahmt. Ihre Augen strahlen aus dem Einheitsbloßnichtauffallenbraunbeige heraus: Sie sind hellgrün.
»Wie im Märchen«, sage ich.
»Ich bin Alexandra«, entgegnet die Gestalt im Tarnanzug. »Ich bringe dich zum Baikalsee. 70 Kilometer von hier.«
»Wie hat dir der Zug gefallen?«, fragt Alexandra, und ihre kleinen Augen blitzen dabei. Der Zug, mit dem wir gerade in Irkutsk gelandet sind, hieß bis vor zwei Jahren noch Baikalexpress , erklärt sie. Er war im Gegensatz zu allen anderen russischen Zügen strahlend blau. Baikalblau. Unter Reisenden galt der Baikalexpress als der beste Zug Russlands. Sogar besser als der Rossija , dem von offizieller Seite die Rolle des Vorzeigezuges zugedacht war. Das wurmte Moskau so sehr, dass die Regierung kurzerhand den Baikalzug mit Einheitsgrau übermalen ließ und ihn so entstellt von der Strecke Moskau –Irkutsk auf die Strecke Sankt Petersburg – Irkutsk verbannte. Zu meiner Freude, denn Sankt Petersburg reizte mich viel mehr als Moskau.
Alexandra ist unsere Übersetzerin. Mir war nicht klar, dass bei den von mir organisierten Transfers ein Übersetzer dabei sein würde. Irgendwie vermisse ich sie schon jetzt, die Sprachbarriere, die ich in den letzten Tagen im Zug immer mal wieder verflucht hatte.
Auf unserer Autofahrt nach Irkutsk wird Alexandra nicht müde zu betonen, dass sie an unserer Stelle nicht in das von uns ausgewählte Chalet ziehen würde, sondern in das ihrer Freundin Tara. Zwar ohne Baikalblick, aber mit viel besserem Preis-Leistungs-Verhältnis. Ich will den Blick. Aber auch höflich sein. Also willige ich beim 173. Versuch, mich zu überzeugen, in eine Besichtigung ein.
»Seit Perestroika wurden viele Fabriken und Firmen um Irkutsk herum geschlossen«, wechselt Tatiana triumphierend das Thema. »Das ärgert natürlich die Menschen. Man erzählt sich einen Witz dazu: Die russischen Autos haben zwei Pedale: eins fürs Gas und eins fürs Erdöl.« Sie lacht trocken auf. Irgendwie erinnert sie mich an meine Oma. Dieser nach vorn gestreckte Hals, die Nasenspitze leicht nach oben getragen, die kleinen vorsichtigen und trotzdem funkelnden grünen Augen.
Als wir in Irkutsk im Stau stehen, berichtet sie,
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