Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
für mich ein Geschenk ist, annimmt, ist seine Entscheidung.«
»Warum Transsib?«, fragt Juri.
»Unterwegs mit dem eigenen Haus auf Rädern und Chauffeur. Mich treiben lassen können zusammen mit Levi, nicht selbst das Steuer in der Hand haben müssen. Und: durch Zufall«, antworte ich.
»Warum bist du nicht in Omsk ausgestiegen wie die anderen Touristen?«, lässt Olga mich fragen.
» Slow travel «, sage ich und erkläre, dass ich Levi versprochen habe, immer mindestens vier bis fünf Tage an einem Ort zu bleiben. Damit er sich an eine Umgebung und die Menschen gewöhnen kann. Damit es für ihn nicht stressig wird und ich entspannt bleibe. Wir machen kein klassisches Sightseeing, wir wollen was erleben. Uns erleben. Außerdem halte ich die Gegend um den Baikalsee und die Mongolei für spannender als Jekaterinburg, Omsk oder Krasnojarsk. Und ich habe gelernt, dass es wichtig ist, sich auf Reisen zu beschränken. Weniger zu machen, aber das intensiv.
Mittlerweile stehen auch noch die zwei männlichen Waggonschaffner aus dem Nebenwagen bei uns. Als Yulia mit ihrem Wägelchen um die Ecke biegt, gibt sie mir einen Kaffee, Levi und Rita je einen Keks und unterbricht ihre Versorgungstour.
Levi zupft an meinem Bein, Juri hebt ihn hoch und sagt: »Du hast eine sehr mutige Mama.«
Ich schaue aus dem Fenster: Dass die Birken sich lichten, kann ich durch meine schwimmenden Linsen gerade noch erkennen. Außerdem mischen sich bunte Holzhäuschen unter die Birken.
Olga fragt etwas auf Russisch, und alle nicken daraufhin. »Ihr seid mutig!«, erklärt Olga. Sie lächelt mich warm an, Sergei spöttisch-liebevoll, Sonia schwankt zwischen einem neutralen und mahnenden Gesichtsausdruck, Katharina wirkt nachdenklich, und die beiden jungen Waggonschaffner albern herum.
Und ich stehe da, inmitten einer Gruppe von Russen, die ich drei Tage zuvor noch nicht einmal kannte, mit Levi auf meiner Hüfte und dem sicheren Gefühl, in diesem Moment genau an diesen Ort zu gehören. Und zu diesen Menschen.
Gerade mache ich es mir in der Schönheit des Augenblicks so richtig gemütlich, als der Zug hält und Juri auf den Bahnsteig hüpft.
»Warst du schon mal in der Türkei?«, fragt er und drückt mir einen Zettel mit seiner E-Mail-Adresse in die Hand. »Falls du Hilfe brauchst unterwegs. Ich kenne fast überall jemanden, ein Freund meines Schwagers wohnt am Baikalsee, und die Schwester einer Freundin ist mit einem Mongolen verheiratet.«
» Spasibo! «, rufe ich und frage: »Wie ist es am Baikalsee? Kannst du mir was empfehlen?«
»Ich war noch nie da«, antwortet Juri. »Zeitlich und finanziell keine Möglichkeit. Du wirst in ein paar Wochen mehr von meinem Land sehen als ich in vierzig Jahren!« Strahlt, winkt und verschwindet, als der Zug eine Rechtskurve fährt.
Und uns bleibt das Rattern.
Das erste Mal seit unserer Abreise bin ich mir sicher, das Richtige zu tun.
Ein ganz besonderes Nichts
»Nur noch eine Nacht«, seufze ich, während Levi im Abteil versucht, sein Mittagessen zu sich zu nehmen. Ein Drittel landet in seinem Mund, ein Drittel am Rest seines kleinen Körpers und das letzte Drittel an der Fensterscheibe. Der orangefarbene Brei gibt den Birken eine interessante künstlerische Note.
Unsere Tage in der Transsibirischen Eisenbahn gehen definitiv zu schnell vorbei. Mit jedem Tag entfaltet ihr Rattern eine stärkere Kraft. Mit jeder Minute im Zug lasse ich mich mehr ein auf diese besondere Zwischenwelt. Auf diesen Ort, den es nicht gibt.
Gerade kann ich Levi noch abwaschen und umziehen, bevor ihm die Augen zufallen.
Die Transsib ist ideal für Levis und meine gemeinsame Reise: Auf eine Art passiert nichts. Keine Sehenswürdigkeiten, keine zeitlichen Verpflichtungen. Nichts, was uns abhält, bei uns zu sein. Dieses Nichts ist ein ganz besonderes Nichts. Wann kann man schon mal nichts machen. Nichts müssen. Nichts vorhaben.
Draußen rattern die Birken vorbei. Diese herrliche Monotonie vor meinem Fenster fordert mich jeden Tag, jede Stunde aufs Neue auf, mich zu öffnen. Mich auf das Hier und Jetzt einzulassen. Auf die Menschen. Diese wunderbaren Menschen! Das Rattern ist so intensiv, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als mitzuschwingen.
Yulia scheppert mit ihrem Wagen vorbei, und ich kaufe einen Joghurt.
Mit dem Einstieg in die Transsibirische Eisenbahn habe ich uns von unserem alten Leben abgeschnitten. München ist nicht hier. Wir sind nicht erreichbar. München?
Die Transsib hat mich mit ihrem
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