Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Rita. Und ich habe das zugelassen. Oder heute Nachmittag, als er in Olgas Abteil verschwunden ist und ich ihn nach fünfzehn Minuten besuchen wollte. Er hat mich angeschaut und laut geschimpft. Ob er befürchtete, dass ich ihn aus Olgas Abteil heraustragen würde, oder ob er einfach noch ein bisschen mit ihr allein sein wollte, habe ich nicht verstanden. Auf jeden Fall habe ich seine Unmutsäußerung respektiert und mich draußen auf dem Gang auf einen Hocker gesetzt. Zwei Minuten später zog ein freudestrahlender Levi sich an meinen Beinen in den Stand. Und ich war stolz auf mich. Dass ich es kann: Levi loslassen.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, und der Zug verfällt in das bekannte beruhigende Hintergrundrattern. Vor wenigen Augenblicken war für mich noch überraschend, wie selbstverständlich Levi mit dem Leben in der Transsib zurechtkommt. Und jetzt habe ich mich erinnert: Reisen ist für mich Leben. Ganz normales Leben. Warum sollte das für Levi anders sein?
Juris Traum
Es ist sieben Uhr Moskauer Zeit, und die Morgendämmerung taucht unser transsibirisches Nest in ein zärtliches Licht. Levi schläft noch. Ich öffne die Abteiltür und schaue in blaue Augen. Kein wässriges Blau. Ein Feuerblau. Wenn es das gibt. Weil es funkelt. Diese Augen fordern mich heraus.
» Priviet «, Hallo, sagt der blonde leicht gebräunte Besitzer dieses aufwühlenden und gleichzeitig entspannenden Augenpaars. Gefolgt von einem Satz auf Russisch, mit dem er sich als Juri vorstellt. Er streckt mir seine Hand entgegen.
»Julia«, sage ich und hoffe, dass er möglichst lange unser Nachbar bleibt. Ritas Familie rechts, Juri links, was soll da noch passieren? »Irkutsk?«, frage ich.
Erst jetzt merkt Juri, dass ich keine Russin bin. »Krasnojarsk«, antwortet er.
Ich habe keine Ahnung, wann wir in Krasnojarsk einfahren. Dauert hoffentlich noch. Lächelnd schauen wir gemeinsam aus dem Fenster und auf die vorbeiratternden Birken, als Juri mich auf Levianisch fragt, woher ich käme.
»München«, sage ich. Und: »Germani« , wobei ich versuche, die Aussprache von Sergei nachzuahmen.
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagt Juri in fast akzentfreiem Deutsch.
»Wir können uns ruhig duzen«, gebe ich lachend zurück.
Er hat Deutsch in der Schule gelernt und es offensichtlich besser behalten als ich mein Schulfranzösisch. »Ich ziehe in zehn Tagen in die Türkei. Ans Meer«, sagt Juri, »um zu kochen!«, und das Strahlen seiner Augen droht den Zug zu sprengen. Er ist Koch und beginnt sein neues Leben westlich von Side. In einem Ferienhotel.
»Ich liebe das Meer, ich beneide dich!«, sage ich.
»Was machst du dann in diesem Zug?«, fragt Juri, als Levi seinen weichen Ich-bin-jetzt-wach-Singsang anstimmt.
Olga startet ihre morgendliche Mülltütenrunde, sieht mich plaudernd mit Juri und ruft etwas herüber.
»Da« , antwortet Juri, und Olga wird hektisch. Sie verstaut die Tüte unter dem Samowar und eilt zu uns.
»Sie möchte dich etwas fragen«, sagt Juri. »Sie fragt, ob ich übersetze, damit sie alles versteht.«
Olga wechselt einige schnelle Sätze mit Juri, dann heften sich ein grünes und ein blaues Augenpaar auf mich, und Juri sagt: »Du fährst zum Baikalsee mit deinem Baby, ja? Und dann über die Mongolei bis nach Peking, ja?«
Ich nicke.
»Warum machst du das? Alleine mit Levi. Wo ist der Vater?«
Olga schimpft leise mit Juri. »Vater nicht gefragt!«, sagt sie grinsend.
Ich starre die beiden an. Meine Hände kribbeln, und mein Magen fühlt sich auf einmal flau an. Vielleicht war der Lachs doch nicht in Ordnung gestern? Levi spielt mit meinen Schnürsenkeln und vermittelt den Eindruck, die nächsten Stunden nichts anderes machen zu wollen. Dem Geruch nach zu urteilen, braucht er auch keine neue Windel. Es gibt also keine Ausreden. Was werden die beiden wohl darüber denken, dass ich mich mit meiner Mission unter sie gemischt habe? Also los:
»Ich reise, wenn ich Antworten suche«, hebe ich an.
Juri lacht, übersetzt und sagt: »Ich hau auch immer ab, wenn es schwierig wird!«
Sergei und Rita strecken die Nasen aus ihrem Abteil. Levi und Rita eröffnen ihre morgendliche Ballspielrunde. Sergei stellt sich zu uns und fragt Olga, was hier los sei. Olga erklärt die Situation, und dann schaut mich neben dem blauen und dem grünen auch noch ein spöttisch lächelndes braunes Augenpaar an.
»Abhauen bringt nichts«, sage ich. »Die Fragen holen mich immer ein. Also reise ich, um der Routine zu Hause zu
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