Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
dass jedes Jahr im Sommer an genau denselben Stellen die Straßen aufgerissen würden, um zu kontrollieren, inwiefern der Winter die Wasserrohre in Mitleidenschaft gezogen habe, und um diese dann auszubessern. Daher gebe es im Sommer oft kein heißes Wasser. Fast jeder Bewohner Irkutsks, der es sich leisten könne, habe sich für diesen Zweck einen Boiler einbauen lassen. Einen Baustellenüberbrückungsboiler. Ihr Deutsch ist wirklich gut. Sie habe ihrem Sohn einen Boiler zur Hochzeit geschenkt. Ich erzähle, dass in München die Straßen auch ständig an denselben Stellen aufgerissen werden. Unser Fahrer Wladimir fragt, was ich gesagt hätte, Alexandra übersetzt. Wir lachen. Levi schläft. Und dann versuche auch ich, ein bisschen zu dösen.
Mir ist nicht nach Reden. Schon gar nicht nach Small Talk. In mir rattert es. Fast lauter als im Zug. Permanent habe ich es die letzten Tage gefühlt und gehört. Schnell war es vertraut. Fast meditativ. Das Rattern. Da es meinen Körper ununterbrochen vibrieren ließ, konnte sich in mir eine beruhigende Stille ausbreiten. Ich habe Sehnsucht nach der Transsib: Die Zeit im Zug war eine Auszeit von allem. Vom normalen Leben, von Sprache, von gewohnter Kommunikation. Und vor allem von den Zweifeln, dem Gefühl der Hetze und der Unsicherheit. Nicht alles richtig zu machen. Mit Levi. Mit meinem, unserem neuen Leben. Levi nicht gerecht zu werden. Oder meinem Freund Markus. Meinen Freunden, meinem Job. Mir selbst. Im Zug war das alles weg. Dafür war da ganz viel Levi. Und unsere Ersatzfamilie: Rita, Olga, Sonia, Juri, Katharina, Sergei. Dieses Nichtstun und auch Nichtswollen, außer essen, schlafen, spielen, reden und sich dem Rattern hingeben, war einfach. Und schön. Einfach schön.
Plötzlich schleudert eine unsichtbare Kraft meinen Körper in den Gurt und meine Gedanken über Bord. Mit dem Kopf stoße ich an die Autodecke. Entsetzt schaue ich zu Levi. Der schläft unerschrocken in seinem Maxi-Cosi.
Wladimir braust mit unserem japanischen Jeep auf einer geteerten Bundesstraße durch dichten Birkenwald. Mit 150 Stundenkilometern fahren wir bergab, Richtung Tal, und direkt auf das nächste steil ansteigende Bergstück zu. Wieder oben angekommen, machen der Wagen und mein Magen einen Hüpfer, um dem nächsten Tal entgegenzufallen. Konzentriert schaue ich seitlich aus dem Fenster, um die aufkommende Panik in Schach zu halten. Und da sehe ich, dass sie uns begleitet. Seit dem Bahnsteig. Freundlich glitzernd. Beruhigend. Vorfreude schürend: die Angara.
Mein Magen kribbelt. Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. Kann die kalte Luft auf meiner Haut spüren. Die Birkenblätter reflektieren das silbrige Licht. Wie ein Meer aus Alufolie. Hie und da haben Menschen Lichtungen in den dichten Wald geschlagen und die Stämme zu Holzhäusern gestapelt. Hier leben, in einem Holzhaus, am Fluss, zwischen Birken, lesen, mit Levi spielen, denke ich zufrieden, als Wladimir abrupt nach links ausschert, um einen Konvoi weiß beschleifter Mercedes-, BMW - und Audi-Jeeps zu überholen. Mit unserem rostgrünen japanischen Geländewagen, der seine besten Tage lange hinter sich gelassen hat. Kurz bevor es wieder bergauf geht, hat Wladimir uns an der den Konvoi anführenden Luxuskarosse, einem Maserati mit der Aufschrift Just married auf der Heckscheibe, vorbeigekämpft.
Der Birkenwald gibt immer öfter den Blick auf die Angara frei, die wie ein unaufhaltsam auf den Höhepunkt zuspielendes Crescendo an Breite zunimmt. Unter die Baumstammhäuser mischen sich mehr und mehr kleine Zarenmärchenschlösser: pastellfarbene Anwesen mit Türmchen, Fahnen, massiven weißen Toren und ganz viel Zuckerguss.
Einem Paukenschlag gleich öffnet sich die Angara trichterförmig und verschmilzt mit dem Baikalsee zu einem tiefblauen funkelnden Meer. Rechts eingerahmt von weit geschwungenen, hügeligen Birkenbuchten. Entlang des linken Seeufers verläuft die Straße nach Listwjanka, dahinter ragen steil von Birken bedeckte Berge in die Höhe. Die gegenüberliegenden Ufer verschwinden in einem Gemisch aus stahlblauem Himmel und silberglitzerndem See. Aber »See« trifft es nicht wirklich. Dieses Gewässer hat die Ausstrahlung eines Meeres. So erhaben, so gewaltig, so selbstverständlich. Ich kneife die Augen zusammen und glaube in der Ferne die Umrisse schneebedeckter Bergketten auszumachen.
Aussteigen, denke ich. Doch Wladimir drosselt das Tempo nur unwesentlich, schnallt sich aber jetzt, da wir durch Ortschaften rasen,
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