Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
habe, in meinem Türrahmen. Sie lacht und eröffnet die Abschiedsparty. Von Sergei, Marina, Olga, Katharina, Ritas Oma und der Teenagermama, die aus den Vorräten ihres bereits berauscht schlafenden Mannes eine Flasche Wodka stibitzt hat, erhalte ich eine Russischstunde, bei der ich nur erahnen kann, was mich meine Lehrer da sagen lassen.
»Wann muss ich morgen aufstehen, Olga?«, frage ich, da ich in diesem ganzen Chaos aus Moskauzeit, Ortszeit, Münchenzeit, die mein iPhone hartnäckig anzeigt, und dem Wodka den Überblick verloren und keine Ahnung habe, was meine Notiz »Ankunft Irkutsk zwölf Uhr« denn nun genau bedeutet.
»Ich wecke euch, keine Sorge«, sagt Olga und rollt das r, wie es nur Russen können. Ich freue mich jetzt schon darauf, nach zwei Wochen Baikalsee zum zweiten Mal nach Transsibirien einzureisen.
Mit angewinkelten Knien, Füßen, die gegen eine beige Plastikwand drücken, einer rechten Hand über meinem Kopf, die sich gegen eine zweite Plastikwand stemmt, süßlichem Milchgeruch in der Nase und mit einem Rattern im gesamten Körper schlafe ich ein.
3
BAIKALSEE UND IRKUTSK: GLOBALE GEBORGENHEIT
Nicht noch einmal Wodka
Die strahlende Sonne täuscht. Ein kalter Wind pfeift uns um die Nasen. Auf dem Bahnsteig von Irkutsk. Es ist sieben Uhr morgens. Noch stehe ich im Zug, an der Türschwelle. Füße drinnen, Nase draußen. Mit seinen Füßen klammert sich Levi an meine linke Hüfte. Mit seinen Händen drückt er sich von mir weg. Um ja nichts zu verpassen. Der Zug endet hier, alle müssen raus. Hinter uns wird es hektisch, vor uns müht sich Sergei mit unserem Gepäck ab: Koffer, Seesack, Kinderwagen. Ich genieße die geschenkten Sekunden in der lieb gewonnenen Transsib. Der Zettel in meiner Hosentasche mit fünf E-Mail-Adressen für alle Fälle und für Fotos von Levi gibt mir Halt.
Diesmal sind draußen auf dem Bahnsteig keine leicht gebeugten alten Männer und Frauen mit zerfurchten Gesichtern in graublauen Arbeiterhosen oder geblümten Schürzenkleidern mit Kopftuch unterwegs, um uns mit den leckeren schrumpeligen sibirischen Äpfeln oder mit Fleisch und Käse gefüllten Teigtaschen zu versorgen. An den Kiosken drängen sich keine Menschenschlangen, um die letzten Fünfminutenterrinen oder Schokolade zu ergattern, bevor der Zug weiterrattert. Auch die schlendernden Menschen, die, außer sich die Füße zu vertreten, nichts vorhaben, bevor es weitergeht, fehlen. Hier ist Endstation. Alle haben es eilig. Wollen nach Hause.
Wir hüpfen auf den Bahnsteig. 20 Grad plus in Sibirien fühlen sich anders an als 20 Grad plus in München, der nördlichsten Stadt Italiens. Der Boden ist fast weiß und blendet mich. Eine Möwe schießt 30 Zentimeter über meinem Kopf vorbei, landet auf einem Lautsprecher und schimpft. Eine Möwe?
Die Zugtüren fallen geräuschvoll in ihre Schlösser, und weg ist sie, die Transsibirische Eisenbahn. Und mit ihr Olga. Die Geborgenheit unserer Familie auf Zeit. Rums. Nach so vielen Tagen ununterbrochenen Zugfahrens kommt das Ende überraschenderweise überraschend. Und vor allem viel zu früh. Herbeigesehnt – wie vor der Reise vermutet – habe ich dieses Ende der ersten Zugetappe wirklich nicht.
Sonia stöckelt beherzt auf 15-Zentimeter-Absätzen und mit Minimini-Minirock – keine 30 Zentimeter, würde Markus sagen und dabei genussvoll lächeln –, einen riesigen Koffer hinter sich her ziehend und eine schwere Tasche tragend, zu ihrem Freund und lächelt uns zu. Ich stehe mit meinen 100 Kilogramm Windeln, Babynahrung, Feuchttüchern und Spielzeug neben Ritas Familie. Sie redet auf mich ein. Ich schaue bedröppelt, ist mir doch eher nach einer Neuauflage der tränen- und wodkareichen russischen Abschiedszeremonie von gestern Abend, als gut organisiert und zuversichtlich zu erklären, dass wir abgeholt werden. Aber ich habe mir ja eh vorgenommen, wenig Alkohol zu trinken. Weil ich einigermaßen fit bleiben will. Muss. Für Levi. Und alle Eventualitäten. Also mit oder ohne Einladung zur zweiten Abschiedsrunde: nicht noch einmal Wodka.
Schade.
Katharina umarmt mich, bevor sie sich in den Menschenstrom Richtung Ausgang einreiht und verschwindet. Levi macht, was er immer macht, wenn er merkt, dass etwas im Busch ist: Er schläft.
Der Bahnsteig hat sich geleert, als ich mich etwas fange: keine an portugiesische Azulejos erinnernden Kacheln am Boden wie in Nowosibirsk. Dafür das gleiche Bonbontürkis, Bibogelb und Weiß an den Bahnhofswänden wie in Omsk. Gepaart
Weitere Kostenlose Bücher