Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
entfliehen, eine neue Idee zu finden und die dann mit nach Hause zu bringen. Als Versöhnungsgeschenk sozusagen. Für meine Abwesenheit.«
Juri lächelt, übersetzt und sagt sonst nichts.
»Was ist deine Frage dieses Mal?«, lässt Sergei Juri fragen.
»Viele Menschen sagen, mit einem Kind wird alles anders. Auch die Eltern selbst verändern sich, heißt es immer. Und zwar nicht unbedingt zum Guten. Die Mütter verblöden bei Windeln und Kinderreimen, und die Väter entfernen sich von der Familie. Oder umgekehrt. Das will ich nicht.«
Olga fragt: »Ist denn so bei dir? Du nicht blöd!«
»Nein, noch nicht. Aber ich habe Angst davor.«
Katharina kommt aus dem Toilettenraum und stellt sich zu uns. Sergei spricht kurz mit ihr, dann fragt sie, wovor genau ich Angst hätte.
»Ich habe Angst, mein Leben mit Levi nicht zu finden. Und meine Träume zu verlieren.«
Katharina schaut Juri an.
Juri übersetzt.
Sonia stellt sich mit verschlafenem Gesicht und zerstrubbelten Haaren zu uns.
»Ich träume von Venedig! Ich möchte von der Giudecca aus auf das Markusbecken blicken und in La Fenice ein Klavierkonzert hören. Oder eines geben«, sagt Katharina und lacht auf. Ihre Augen leuchten, ihre Wangen sind leicht gerötet. Dann senkt sie ihre Augen und sagt leise: »Ich möchte einmal nach Venedig! Das echte Venedig, nicht das Venedig Russlands.«
Sergei erzählt uns, er träume davon, mit seiner Frau und Rita zusammen in Sankt Petersburg zu leben. Und von einem zweiten Kind: einem Sohn. Dann gibt er zu bedenken: »Viel zu teuer. Und keine Arbeit für mich!«
Sonia sagt, sie träume von einem Mann mit ganz viel Geld. »Geld« sagt sie auf Deutsch.
Sergei sagt: »Ich auch!« Und alle lachen.
Marina, die zweite Waggonschaffnerin und Vertreterin von Olga sagt, sie weiß nicht genau, wovon sie träumen soll.
Olga entgegnet, dass sie davon träume, ins All zu fliegen: »Ich habe gelesen, dass das jetzt nicht nur für Astronauten möglich ist. Ich würde gerne diese Weltraumflugzeuge mitentwickeln und die Erde von oben sehen.«
Alle sprechen auf einmal ein paar Worte Deutsch. Und ich schäme mich ein wenig für meine fehlenden Russischkenntnisse. Wo immer es geht, versuche ich meinen Wortschatz, der mit da, spasibo und priviet fast zu Ende erzählt ist, einzustreuen. Als Sonia mir eine Kekstüte unter die Nase hält, greife ich zu und sage: »Spasibo!« Oder muss es spasiba heißen? Sagt man als Frau grundsätzlich spasiba oder nur, wenn ich mich bei einer Frau bedanke? Und wenn mein Gegenüber ein Mann ist, spasibo ? Konzentriert versuche ich mich daran zu erinnern, wann wer im Zug »o« oder »a« gesagt hat. Es mag mir einfach nicht einfallen. Ist das jetzt schon die mit 24-stündiger Babybetreuung einhergehende viel zitierte Verblödung? Oder ist mein Hirn mit Transsib und Levi einfach ausgelastet? Egal! Was hat Juri gerade gefragt? Ob ich bisher meine Träume gelebt habe? Vor Levi?
Gut, ich wusste, dass die Reise nicht einfach wird. Aber so schwierig?
» Work in progress «, sage ich, lache und fange an, von der Bedeutung des Reisens für mich zu erzählen. Dass ich auch andere Menschen dazu verführen möchte, sich hinauszuwagen, um dem Trott zu entkommen. Den Mühlen, die einem das Feuer aus den Augen stehlen. Und dass ich deswegen nach einer Bhutanreise einen Reiseveranstalter gegründet und nach einer Reise zum Salar de Uyuni eine Reisebuchhandlung übernommen habe. Dass ich in Bhutan zum Chomolhari Base Camp getrekkt bin, als ich gerade erfahren hatte, dass ich schwanger war. Und von Grönland mit Babybauch.
»Und jetzt bin ich hier. Mit euch!«
Wir sprechen noch eine Stunde über Träume, Ziele und das Leben, bis Sonia etwas sagt, das Juri nicht sofort übersetzt. Mit aufgerissenen Augen und in einem leicht harschen Ton spricht er in die Runde. Es gibt ein paar Wortwechsel, offensichtlich ist man sich uneinig, ob die Frage angemessen oder wie sie zu stellen sei.
Dann fragt Juri: »Findest du diese Reise nicht zu gefährlich? Für Levi? Auf der Suche nach deinen Träumen?«
»Ich fand es gefährlicher für uns alle, zu Hause zu bleiben«, antworte ich. »Außerdem möchte ich herausfinden, ob abenteuerliches Reisen mit Levi funktioniert. Ob es ihm guttut, so wie mir. Wenn nicht, breche ich ab.«
»Es scheint ihm gut zu gehen«, sagt Marina und beobachtet Levi, wie er an Ritas pinker Plastiksandale herumdoktert.
»Ich kann Levi den Schlüssel, den ich für mich gefunden habe, nur anbieten. Ob er das, was
Weitere Kostenlose Bücher