Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
hatten nicht dasselbe Reiseziel. Und dennoch war da was. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Und mehr. Vielleicht bedarf es der Freiwilligkeit, damit sich eine Gruppe finden kann? Oder des Zufalls, dass sich Menschen treffen, die irgendwie zueinanderpassen? Oder einfach einer Programmfreiheit? Eines gewissen Freiraums?
Bei David Foster Wallace * [David Foster Wallace: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich , Hamburg 2002.] hatte ich gelesen, dass der Zwang zum kollektiven Amüsement auf Kreuzfahrten mit Fortschreiten der Tage an Bord zunehmend zur Belastung werden kann. Zum Gefühl, sich verstecken und abgrenzen zu müssen. Um sich nicht zu verlieren. Während nach Wallace auf hoher See die Menschen mit jedem Tag mehr auseinanderdriften, kam sich meine transsibirische Familie mit jedem geratterten Kilometer näher. Ohne Grenzen zu überschreiten. Eine Antikreuzfahrt.
Ich stopfe Levi in seinen roten Fleeceanzug, ziehe selbst Mütze und Handschuhe an und genieße das rhythmische Tuckern des Fischerbootes. Levi schläft ein, und ich inhaliere den Blick auf Uferstraße, Holzhäuschen und mal gelbe, mal rosafarbene kleine Märchenschlösser, die ihre Existenzberechtigung den schroff aufsteigenden Hügeln abtrotzen, zu unserer Rechten. Zu unserer Linken, auf der anderen Seite der Angara, haben die Hügel mit Ausnahme von Port Baikal die Oberhand behalten: sanft geschwungene Buchten voll unberührter Landschaft, so weit das Auge reicht.
In rosiger Abenddämmerung stapfen wir die kleine ausgefranste Uferstichstraße hoch zu unserem Holzchalet. Unser Tisch im Restaurant ist bereits gedeckt. »Heute gibt es Huhn, für dich natürlich püriert«, sagt Tara und zwickt Levi in die Wange. Routiniert stillt dieser zunächst seinen Hunger, um dann eine Runde durch die Küche zu krabbeln und anschließend zu versuchen, sich an den verschiedenen Stühlen des Restaurants in den Stand zu ziehen. Die Küchencrew versammelt sich im Restaurant, um abwechselnd dem immer mal wieder hinplumpsenden Levi aufzuhelfen oder ihn mit russischen Liedern und Tanzeinlagen zum Lachen zu bringen. Mit Erfolg: In Gesellschaft dreht Levi auf. Je mehr Menschen um ihn herumwirbeln, desto besser. Die deutsche Reisegruppe und das Englisch sprechende Paar beobachten das Treiben, schauen aber weg, wenn Levi sich an einem Stuhl in ihrer Nähe hochzieht, und machen keine Anstalten, mit ihm zu kommunizieren. Innerlich muss ich lachen: Bevor ich Kinder hatte, habe ich mich auf Reisen auch oft von fremden Kindern abgewandt. Wollte meine Ruhe. Und habe damit nicht nur viel Spaß, sondern sicher auch echte Begegnungen mit den Eltern verpasst.
»Was machen Sie morgen?«, frage ich die deutsche Reisegruppe.
»Sie sprechen ja Deutsch!«
»Ich komme aus München.«
»Wir haben Sie heute auf dem Boot gesehen! Ohne Reiseleiter.«
»Wir reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn von Sankt Petersburg über die Mongolei bis nach Peking. Zu zweit.«
»Wir reisen mit der Transsib nach Wladiwostok. Wir sind froh um unseren Übersetzer. Die Menschen sprechen hier ja alle kaum Englisch. Sie scheinen gar keine Hilfe zu brauchen?«, fragt die eine Frau aus dem Bootsinneren.
»Bisher sind wir gut klargekommen«, antworte ich und kann Levi gerade noch rechtzeitig davon abhalten, aus dem Restaurant hinauszukrabbeln und sich an der Treppe zu unserem Zimmer zu probieren. Multitasking scheint nicht bei allen Frauen zu funktionieren. Aber ist vielleicht auch gut so, es soll zu seelischen Krankheiten führen, habe ich irgendwo gelesen.
Nach einigen Momenten des Schweigens erzählt mir Julius, dass sie morgen weiterreisen, nach Ulan-Ude.
Als Levi sich am Stuhl der australisches Englisch sprechenden Frau hochzieht und lachend umfällt, hebt diese ihn auf und drückt ihn mir in den Arm. Ich setze meinen Sohn wieder auf den Boden, und er krabbelt zielgerichtet zum Stuhl ihres Mannes.
»I am sorry, is he bothering you?« , frage ich den Mann.
»No, no.« Er sei nur überrascht, in dieser Wildnis – bei dem Wort » wilderness « reißt er die Augen weit auf – eine Mutter mit krabbelndem Baby anzutreffen: »Wir haben auch zwei Söhne. Die sind schon erwachsen. Als die in seinem Alter waren, haben wir Australien nicht verlassen«, sagt der Mann aus Melbourne mit ernster Miene.
»Ja, die meisten Menschen reisen nicht mit ihren kleinen Babys«, sage ich. »Aber bisher habe ich keinen Grund dafür gefunden. Sollte ich einen finden, breche ich die Reise ab«, sage ich, damit
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