Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
der Mann aufhört, mich wie eine verantwortungslose Verrückte anzuschauen, und sich keine Sorgen um Levi macht. Und weil ich es so meine.
»Mir fällt eigentlich auch kein Grund ein«, sagt der Australier nach einer Gedankenpause. »Margret, warum sind wir eigentlich nicht gereist, als die Kinder klein waren?«
»Das macht doch niemand«, antwortet diese. Und an mich gerichtet: »Ist das nicht sehr anstrengend?«
»Bisher weniger anstrengend, als zu Hause alles unter einen Hut zu bekommen«, antworte ich und überrasche mich selbst mit dieser Erkenntnis.
»Sie sind eine mutige Frau«, sagt Margret mit ernster Miene.
Zufrieden stelle ich auf dem Weg in unser Zimmer fest, dass mich das »mutig« nicht mehr verunsichert, sondern bestätigt.
Man muss nur mit der Seele suchen
Übermüdet sitze ich im Dunkeln auf meinem Balkon und friere. Levi hat heute über eine Stunde gebraucht, um einzuschlafen. Da mir der lange Tag in den Knochen steckt, bin ich selbstredend davon ausgegangen, dass er sich ähnlich erschöpft fühlt. War aber nicht so. Levi wollte noch spielen, brabbeln, an meine Nase fassen. Irgendwann hatte ich akzeptiert, dass mein levifreier Abend eine Stunde später als gedacht beginnen würde oder ich ihn auf eine halbe Stunde zusammenstreichen müsste. Kurz darauf entspannte auch er sich und schlief in meine Arme gekuschelt ein.
Es scheint, als hätte Levi klare Vorstellungen von seinem Tag. Er weiß genau, wann er allein oder mit anderen spielen, mit mir kuscheln, von mir durch die Welt getragen werden und seine Neugier befeuern, essen oder schlafen möchte: Wenn er aufwacht, möchte er kuscheln, dann mit mir im Zimmer spielen. Die Welt soll noch ein bisschen draußen bleiben. Auf das Frühstück folgt eine Spielsession, die andere Menschen einbezieht und in der er unbekanntes Terrain erobert: die Küche, die Terrasse, den Garten. Dann folgen Erschöpfung, Schmusen auf meinem Arm und der erste Mittagsschlaf. Danach geht es richtig los: raus in die Welt, erst auf meinem Arm, dann gerne auch allein, krabbelnd. Mittagessen, bei Mama ein wenig kuscheln, dann zum zweiten Mal schlafen. Danach etwas kontemplativeres Spielen oder auf Mamas Schoß gekuschelt ein Buch anschauen, Steine anfassen und in den Baikalsee schleudern oder die Sonnencreme auf- und wiederzudrehen. Dann Abendessen, im Restaurant noch mal richtig aufdrehen und sich mit den Menschen dort beschäftigen, aufstehen üben oder Krabbeln perfektionieren, bis die Augen schlitzig werden. Dann Körperpflege, Schlafanzug anziehen, Buch anschauen, singen mit Mama, Flasche schnuckern und träumen.
Wird dieser Rhythmus eingehalten, ist alles okay, und er spielt mit, egal was ich im Rahmen seines Flows so veranstalte. Ich habe sogar den Eindruck, dass es ihm Spaß macht zu kooperieren. Er will dazu beizutragen, dass unsere Tage gelingen. Als Levi in der Transsib mit Rita den Gang entlanggejagt ist und die verschiedenen Abteile inspiziert hat, hatte ich sogar den Eindruck, es gefällt ihm, mich zu überraschen: »Ich schaffe das, Mama, lass mich nur machen!«, schienen seine lachenden wachsamen Augen zu sagen. Bisher zeigt sich Levi viel robuster, als ich es ihm zugetraut habe. Für ihn ist alles so selbstverständlich. Vielleicht auch, weil er mir vertraut? Weil er weiß, dass er zu mir flüchten kann, wenn ihm etwas zu viel wird?
Mein Gefühl sagt mir, dass Levi nur dann laut wird, wenn etwas für ihn wirklich nicht stimmt. Wenn er ein Bedürfnis hat, das ich gerade nicht respektiere oder sehe. Oder wenn er Bauchweh hat, zum Beispiel. Der Schlüssel für unser harmonisches Reisen scheint in der Empathie zu liegen, mit der wir uns gegenseitig begegnen. Auch Levi mir. Er beobachtet. Auch mich. Er hat nicht wild gezappelt auf meinem Arm, als wir aus der Transsib ausgestiegen sind und ich mit Schleppen und Orientieren genug zu tun hatte und ein bisschen nervös war. Er brabbelte nicht dazwischen, als ich konzentriert versuchte, der Dame in der Touristeninformation ein Bootsticket abzuschwatzen. Er lebt seinen Freiraum aus, wenn Zeit dazu ist. Und alles, was ich tun muss, ist, dafür zu sorgen, dass es diese Zeiten gibt. Und: meinem Sohn deutlich zu machen, dass ich ihn ernst nehme. Seine Wünsche respektiere. Und dass unser tägliches Tun Sinn macht für mich. Und somit für ihn.
Lächelnd und mit Tränen in den Augen stelle ich mich an das Bett meines kleinen Zwerges und bedanke mich bei ihm für das, was er schon immer war, ist und sein wird: ein
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