Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
mache. Er schaut zwischen mir und dem Lift hin und her. Dann streckt er seinen Arm aus, zeigt auf die nächste Liftbank und sagt: »Dadadaaaat!«
»Genau, das ist unsere Bank«, antworte ich, stelle mich in die Spur, setze mich hin, der Liftangestellte verstaut den Rucksack auf den freien Plätzen neben uns, und los geht’s mit einem Schwung und dem damit verbundenen Kribbeln im Bauch. »Uiiii«, mache ich, kitzle Levis Bauch, und mein Sohn kichert lauthals. Und wieder einmal haben Neugier und Vertrauen über Angst gesiegt. Ich mache ein Foto, wie Levi seine Nase über den Bügel schiebt, um die Blumenwiese unter uns und den mit jedem Meter größer werdenden Seeausschnitt in Augenschein zu nehmen, und nehme mir fest vor, dieses Foto künftig hervorzuholen, wenn ich aus Angst etwas nicht machen möchte.
»Igor behandelt uns wie Schulkinder«, hatte sich die Teilnehmerin der Gruppenreise über ihren Anführer beschwert. Und auch Anna hatte den Vergleich zum Kindsein herangezogen, als sie über die Ängste beim Reisen sprach: »Sie möchten sich nicht wie ein dummes Kind behandeln lassen, sie möchten sich nicht der Gefahr aussetzen, dass man über sie lacht.« Und auch ich habe in der Wut schon mal zu Markus gesagt, bevor es Levi gab: »So kannst du mit deinem Kind reden, aber nicht mit mir!«
Je mehr ich mit Levi reise, desto klarer wird mir, dass solche Sprüche totaler Blödsinn sind: Ich rede mit Levi wie mit einem gleichberechtigten Menschen. Und so behandle ich ihn auch. Wenn man mal vom Windelnwechseln absieht und vom Füttern. Aber auch hier: Wenn ein erwachsener Mensch krankheitsbedingt Windeln tragen und gefüttert werden muss, ist er noch lang kein Idiot.
Levi zeigt mir jeden Tag, wie neugierig und unvoreingenommen er ist. Mein Eindruck ist, dass der negative Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem Wort »Kind« (dummes Kind, unmündiges Kind) zeigt, wie sehr sich die Erwachsenen von den lebensbejahenden Fähigkeiten der Kinder, von ihrer positiven Art, die Welt als ihre Spielwiese zu sehen, entfernt haben. Oder dass sie einfach eine todtraurige Kindheit hatten. Oder sie leben in einer Gesellschaft, in der Kinder nicht wertgeschätzt werden. Oder alles zusammen?
Nach fünf Minuten Liftfahrt mache ich unter uns die Englisch sprechende Reisegruppe von heute Morgen aus. Ob ich den Abstieg mit Levi zu Fuß schaffen würde, frage ich. Kein Problem, lachen sie zuversichtlich zurück. Wenige Augenblicke später hüpfe ich mit Levi aus dem Lift, greife den Rucksack und stehe auf einer mattgrünen Blumenwiese. Die nächsten sechs Gondeln sind leer, danach kann ich zwei besetzte Gondeln ausmachen, dahinter wieder nur Metallgerüste. Einige Meter folgen wir einem kleinen Trampelpfad, der bestimmt zum Tscherskistein führt, dann bleibe ich stehen und blicke mich um: Hinter mir liegt eine Blumenwiese vor einer hügeligen Birkenlandschaft. Am Horizont zeichnet sich blauschlierig der Baikalsee ab, der sich mit dem mittlerweile von länglichen weißen Wolken durchzogenen diesigen Himmel vermischt. Selbst die Bergketten am gegenüberliegenden Ufer schimmern blau, einige Büsche und Farne sind gelb und rostrot verfärbt. Der Wind ist schwach.
Die Diesigkeit verleiht der Luft eine Konsistenz, die zur Langsamkeit auffordert, also ziehe ich meine Daunenweste aus, setze Levi darauf und mich daneben. Levi nimmt seinen Schnuller aus dem Mund, kuschelt sich an meine Seite und blickt mit mir gemeinsam auf den Baikalsee. Eine russische Familie steigt aus dem Lift, Mutter und Tochter in engen Hosen und hohen Schuhen, der Vater in Jackett und der Sohn mit einem karierten Hemdkragen unter seinem Sweatshirt.
»Tscherski, Tscherski« , sagen sie zu mir und deuten auf den Trampelpfad, der in einem Waldstück verschwindet. »Dada« , bedanke ich mich und deute auf Levi. Mag ja sein, dass der Blick vom Stein noch mal schöner ist, aber ich finde es gerade hier genau richtig.
Levi betastet die Köpfe der Blumen: erst die weißen, dann die gelben, gefolgt von den lilafarbenen. Ich beobachte, wie er sich konzentriert, um seine Finger genau an das kleine hervorstehende Blütenblatt zu lenken. Sein Mund ist leicht geöffnet, und Speichel tropft heraus: Ob sich ein neuer Zahn ankündigt? Levi rupft die Blüte vom Stängel und hält sie mir vor die Nase. »Danke«, sage ich und freue mich sehr über die Aufmerksamkeit. »Gaga«, antwortet Levi und strahlt.
Irgendwann stehen wir auf. Wir tauchen auf dem Pfad ein in das kleine Wäldchen. Als
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