Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
gleichberechtigter Mensch und lehrreicher Reisepartner.
Vielleicht ist das auch einer der Schlüssel für unser Leben zu Hause: Empathie statt Regeln. Intuition statt Meinungen und Ratschläge anderer. Achtsamkeit und Glück als oberste Richtschnur. Levis und mein Glück. Und Markus’ Glück natürlich auch. Aber der kommt uns erst in der Mongolei besuchen. »Im Alltag versteckt sich Glück. Man muss es nur mit der Seele suchen«, diesen frei nach Goethe zitierten Satz habe ich irgendwo mal gelesen. Vielleicht machen wir diese Reise, um meine Seele freizuschaufeln von dem ganzen Erziehungsmüll unserer Gesellschaft?
Hemingway nannte es in Schnee auf dem Kilimandscharo Seelenspeck. Mit dem Gedanken daran, dass Reisen die Seele trainiert und ihr Fett schmelzen lässt, schlafe ich wenige Minuten nach Levi ein.
Warum bin ich nur so müde?
Levi und ich sitzen auf der Terrasse vor dem Restaurant unseres Chalets und genießen, wie die morgendliche Sonne langsam stärker wird. Levi pflückt Blumen aus Taras Töpfen und hilft beim Geschirrspülen: Tara hat ihm Wasser in eine blaue Plastikwanne gefüllt, und Levi taucht mit wachsender Begeisterung meine Teetasse, die er vom Frühstückstisch stibitzt hat und seitdem mit sich herumschleppt, hinein. Tara setzt sich mit ernster Miene neben ihn und taucht einen mitgebrachten Teller unter. Ich blicke auf den verschlafenen See, als die Asiatin ihren Kopf aus dem Küchenfenster reckt und ruft: »Julia, telephone!«
Schon wieder?
Es ist Alexandra. Sie ist heute um 14 Uhr mit einer Gruppe im Heimatkundemuseum und fragt, ob wir uns nicht anschließen wollen. Eigentlich fragt sie nicht, sie fordert uns auf: »Das müsst ihr sehen. Das machen alle!«
Ich bin gerührt, dass Alexandra an uns denkt und relativ sicher, dass weder Levi noch ich besonders viel Spaß an einem Heimatkundemuseumsbesuch haben werden. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Alexandra nicht vor den Kopf zu stoßen, und dem Wunsch, Levis und mein Wohlbefinden nicht aus dem Auge zu verlieren, versuche ich, mich diplomatisch aus der Affäre zu ziehen: »Ich steige mit Levi heute zum Tscherskistein auf. Falls wir es zeitlich schaffen, kommen wir auf dem Rückweg vorbei. Danke auf jeden Fall für das Angebot.«
Kurz darauf fällt Levi in seinen ersten Mittagsschlaf. Ich packe unseren Rucksack für den Aufstieg und genieße den Rest der Zeit lesend auf unserem sonnigen Lärchenbalkon.
Gegen zwölf Uhr bitte ich Tara, uns ein Taxi zu rufen. »Nehmt doch den Lift hoch zum Felsen«, rät diese. Der Aufstieg sei lang und anstrengend mit Levi. Ich bedanke mich für den Tipp und frage, was das Taxi denn ungefähr kosten werde. 1800 Rubel, sagt Tara. Taxen scheinen teuer, denke ich, finde mich aber damit ab, weil ich nun einmal mit Levi auf diesen Felsen möchte, und das möglichst in der wärmenden Mittagssonne. Als der Taxifahrer uns an der Liftstation absetzt und ich ihm zwei 1000-Rubel-Scheine in die Hand drücke, winkt dieser ab, lacht und gibt mir 1820 Rubel zurück. Tara hat offenbar auf Englisch tausend mit hundert verwechselt – kann vorkommen.
Der Taxifahrer fragt, ob er uns wieder abholen soll. Da ich keine Pläne machen möchte, gibt er mir einen Zettel mit seiner Handynummer und entschuldigt sich dafür, dass er nicht warten kann. Ich denke an das Gespräch mit Anna beim Grillen und ihre Thesen, dass die Angst der Menschen vorm Reisen die Angst vor dem eigenen Versagen sei. Die Angst, die Kommunikation mit den Einheimischen nicht hinzubekommen. Und die Angst, übers Ohr gehauen zu werden. Dieser Taxifahrer ist ein kleiner Beweis dafür, dass Ängste vor dem Reisen oft nur im eigenen Kopf bestehen und mit der Realität in der Fremde wenig zu tun haben.
Vielleicht geben die Ängste vor dem Reisen auch einen Hinweis auf die Realität im eigenen Land. Denn: Wie viele Taxifahrer in Deutschland hätten einen Ausländer, der sich beim Bezahlen um eine Null verrechnet, darauf hingewiesen?
Der Lift ist ein sympathisch klapperndes Skiliftfossil: Metallbänke für jeweils vier Personen. Die Schutzbügel, an denen auch die Fußstützen befestigt sind, lassen sich manuell seitlich zuklappen: zwei pro Bank. Sie rasten nicht ein, sondern müssen mit einem Metallstift geschlossen werden. Levis Griff an meiner Schulter wird fester. Sein Blick ist konzentriert. Ich lasse einige Liftbänke an uns vorbeirattern und erkläre Levi mit einem Lächeln auf den Lippen und ruhiger Stimme, dass Liftfahren ganz viel Spaß
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