Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
für Levi, um und stapfe los.
Bei der ersten Steigung breche ich fast zusammen. Doch schon beim dritten Anstieg habe ich meinen Wanderrhythmus gefunden und genieße mit Levi die Gesellschaft des klaren glitzernden Wassers, das geräuschvoll gegen die Steilküste prallt, und die altbekannten, sich mehr und mehr gelb und rot färbenden Birken.
Der Sinn des Lebens: Nataschas Traum
Beim gemeinsamen abendlichen Kochen in der Wohnküche frage ich Natascha nach einem kleinen Glas Wein. Sie ist so überrascht, dass ich mich fühle, als hätte ich mich als Alkoholikerin geoutet. Nach ein paar Minuten schenkt sie mir eine Teetasse halb voll mit einer gelb-schlierigen Flüssigkeit: einer Art Likör, auf jeden Fall hochprozentig. Für sich selbst füllt sie eine weitere Tasse, prostet mir zu und schaut aus dem Fenster: »Für morgen ist Sturm und ein Temperatursturz vorhergesagt«, sagt sie. »Es wird sehr kalt. Vielleicht schneit es sogar. Die deutsche Reisegruppe hat deswegen abgesagt: Das Boot fährt die nächsten Tage nicht.«
»Vielleicht muss ich jetzt hier überwintern?«, freue ich mich und ziehe Levi etwas fester an mich heran.
Natascha reicht mir einen Teller Quinoa mit Gemüse, setzt sich zu mir an die lange Tafel und sagt: »Ich verbringe seit meiner Kindheit die Sommer in Bolschije Koty.«
Während sie von Bolschije Koty spricht, werden ihre Gesichtszüge ganz weich. Faltenfrei. Eine elfenhafte Aura umgibt diese Frau, der man ansieht, dass sie richtig zupacken kann. Levi sitzt in Mariannas Babystuhl und hängt an ihren Lippen. So wie ich.
Natascha träumt davon, nach ihrer Pensionierung ganz nach Bolschije Koty zu ziehen. Hier sei das Leben zwar voller körperlicher Arbeit, aber dennoch nicht halb so ermüdend wie das Leben in der Stadt. Gemüse und Kräuter pflanzen und ernten, das Haus und den Garten in Schuss halten, Holz hacken – das sei viel Arbeit bei der extremen Witterung am Baikal mit Stürmen, Schneestürmen und 40 Grad minus im Winter. Sie lächelt einen Moment still für sich, da sie weiß, was sie als Nächstes sagen wird, es aber noch nicht gesagt hat. Sie überlegt, ob sie es sagen oder lieber für sich behalten soll. Sie spürt es schon und fragt sich, wie ich wohl reagiere: »Die Arbeit hier ist voller Sinn«, sagt sie. »Nicht so wie in der Stadt!« Sie schaut mich unentwegt an, ihre hellgrünen Augen werden ein ganz bisschen wässrig: »Ich liebe die Natur hier.«
Als Natascha ein Kind war, und auch als junge Frau noch, gab es ein reges soziales Leben in Bolschije Koty: Die damals gut hundert Einwohner und die wenigen Sommergäste aus Irkutsk trafen sich jeden Tag von 21 bis 24 Uhr im Klub. Strom kam vom Generator. Genau für diese drei Stunden. Nur für den Klub. Man schaute gemeinsam Filme, hörte Konzerte, gespielt von den Biologiestudenten aus Irkutsk, die die Forschungsstation für ein paar Monate besuchten, tanzte, plauderte und hatte Spaß.
Der Wind presst gegen die Fensterscheiben, Nataschas Augen leuchten, und ich höre leise die Musik aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Damals wurde der Sand von Bolschije Koty noch nach Gold gewaschen. Ganz früher mit der Hand, von japanischen und deutschen Kriegsgefangenen. Danach mit Maschinen, die vor der Küste schwammen.
Während sie spricht, hält es Natascha kaum auf dem Stuhl. Wie ein Kind kurz vor der Bescherung rutscht sie unruhig hin und her. Die Liebe zu diesem Ort und ihrer damit verbundenen Geschichte strömt aus jeder Pore ihres Elfen-Kobold-Arbeiterinnen-Körpers.
»Als die Goldwäsche 1979 eingestellt wurde, ging es bergab.« Mit dem sozialen Leben. Der Einwohnerzahl. Dem Spaß. Viele Familien zogen nach Irkutsk. Aus Häusern wurden Ferienhäuser. Den Klub gibt es nicht mehr. Mit dem permanenten Strom kamen Fernsehen und Internet. »Die Menschen bleiben abends nun lieber zu Hause. Für sich«, sagt Natascha, und ich fühle ihren Schmerz. Aber da ist keine Resignation. Keine Verzweiflung.
»In Russland war es sehr hart in den Neunzigerjahren«, fährt Natascha mit dem neutralen Gesichtsausdruck einer Journalistin fort. »Viele konnten ihre Familie nicht ernähren.« Sie hatte Glück und kam weiterhin jeden Sommer für mehrere Monate. Erst mit ihren Eltern. Dann mit ihren Kindern. Und jetzt mit ihrem ersten Enkelkind. Das Chalet, in dem Levi und ich wohnen und das Natascha betreut, ist eines der neuesten Gebäude in Bolschije Koty. Bevor es gebaut wurde, beherbergte sie Gäste in ihrem kleinen Sommerhaus. Mit Plumpsklo
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