Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
Vom Netzwerk:
des Potala. Schockiert von dem Platz, den chinesische Strategen direkt gegenüber des Potala errichtet hatten: so groß wie zwei Fußballfelder, zubetoniert und mit einer Leinwand gigantischen Ausmaßes geschmückt, von der ohne Unterbrechung militärische Musik und Ansprachen erschallten, deren Worte ich zwar nicht verstand, deren Botschaft jedoch unmissverständlich war.
    Jeder Tag in Lhasa war eine Herausforderung für Körper und Geist: Die 3600 Meter Höhe zwangen mich dazu, mich langsam zu bewegen, und rächten sich sofort mit Kopfschmerzen und Übelkeit, wenn ich es vergaß und in meinem üblichen Tempo durch die Gassen und umliegenden Berge und Klöster peste.
    Ich empfehle den Franzosen die Dachterrasse des Mandala -Hotels in der Altstadt von Lhasa zum Durchatmen und zwei Nächte Zelten am Namtsosee, einige Stunden Fahrt entfernt. Und das Königreich Mustang. Denn Mustang ist so, wie ich mir Tibet vorgestellt hatte.
    »War Levi da auch schon dabei?«, fragt mich die Französin.
    »Nein!«, lache ich. »Da hab ich noch nicht mal an ihn gedacht!«
    Als Levi schläft, setze ich mich im Dunkeln ans Fenster und schaue auf den sternenbefunkelten See. Der Wind hat die Wolken weggeblasen, die Prognose für das Boot ist gut. Das Bild von der hüpfenden und tanzenden Natascha in der Wohnküche kommt mir in den Sinn. Levi saß mit großen lachenden Augen vor ihr, und Natascha sprang singend um ihn herum. Mit der Leichtigkeit eines Mädchens. Levi versuchte kreischend ihren Zopf zu fangen. Und ich konnte ein bisschen lesen. Levi krabbelte neben Marianna, die beiden spielten mit den bunten Plastikwurfringen, und Alicer saß daneben. Und ich plauderte mit Nadia.
    Meine Augen finden den Fischkutter, der mich übermorgen nach Irkutsk bringen wird, und ich treffe eine Entscheidung: Ich kann mich sehr intensiv und sehr gut um Levi kümmern. Aber nicht 24 Stunden am Tag. Und das liegt nicht nur daran, dass ich auch noch andere Interessen habe im Leben außer Levi. Das ist bei mir einfach so. Irgendwann kann und will ich mich nicht mehr auf Levi konzentrieren. Das merke ich daran, dass Kleinigkeiten anfangen mich zu nerven. Und dann ist es gut, wenn ich gehen kann. Wenn es jemanden gibt, der sich um Levi kümmert.
    Dazu kommt: Levi genießt es, sich neben der intensiven Zeit mit mir auch mit anderen Menschen zu beschäftigen. Obwohl er erst zehn Monate alt ist. Er merkt, dass Alicer oder Nadia irgendwie anders spielen als ich. Und anders sprechen. Und das interessiert ihn. Ich sehe es jeden Tag. Also: Schluss mit dem schlechten Gewissen, wenn ich Levi künftig zu Hause bei der Babysitterin lasse. Das ist keine Notlösung, weil ich arbeiten muss. Das ist gut. Für ihn. Und für mich. Vorausgesetzt, die Babysitterin ist gut, aber das ist ein anderes Thema.
    Ich atme tief und gleichmäßig und schaue noch eine halbe Stunde auf den See. In meiner Beziehung zu Levi, so besonders und intensiv sie auch ist, scheinen ein Stück weit dieselben Regeln zu gelten wie für meine anderen Beziehungen und Freundschaften: Zu viel ist nicht gut. Eine Mischung aus Nähe und Distanz ist für mich wichtig, damit ich mich immer wieder auf den anderen freuen kann. Und der sich auf mich.
    Das Licht des Halbmondes scheint auf Levis Gesicht. Ich atme die Luft des Baikal und fühle mich leicht. Ganz bei mir. Und bei uns.
    Abschiedsschmerz
    Levi steht vor unseren gemeinsam gepackten Taschen. Seine Hände zupfen an den Reißverschlüssen. Mit gespitzten Lippen bohrt er seine Finger ins Innere der Tasche und zieht ein Lätzchen hervor. Und einen Strumpf. Triumphierend schaut er mich an. Dann krabbelt er, so schnell er kann, mit der Beute Richtung Küche.
    »Leeeevii«, begrüßt Natascha den Dieb. Gefolgt von einem warmen Schwall melodiöser russischer Worte. Levi scheint sie zu verstehen. Seine Augen leuchten, und sein Mund ist zu einem weiten lautlosen Lachen aufgerissen. Er zittert vor Glück, Lätzchen und Strumpf fest umschlungen.
    Ich habe den Eindruck, dass Levi zum ersten Mal in seinem Leben begreift, dass eine gepackte Tasche Abschied und Aufbruch bedeutet. Zumindest hat er ein Gefühl davon. Ein Vorgefühl. Eine Ahnung. Worte hat er ja noch keine. Und: Er will nicht. Er will hierbleiben. Bei Natascha. Und Marianna. Ich bin mir ganz sicher.
    Mir geht es genauso.
    Der Nachbar besitzt eines der wenigen Autos im Ort. Im Winter sei das nützlich, sagt er. Wenn man über das Eis fahren kann nach Listwjanka oder Irkutsk oder auf die andere Seite des

Weitere Kostenlose Bücher