Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
beobachtet, wie ihre Mutter Kräuter schneidet. Levi rupft die danebenstehenden Blumen aus. Hier im Windschatten des Hauses ist es richtig warm, und so beschließe ich, während Levis zweiten Mittagsschlafs auf meinem Balkon mit Blick auf den See zu trödeln. Nadia drückt Levi ein Büschel Kräuter in die Hand. Mit ernster Miene hält er die Kräuter, bis wir wieder in der Küche stehen und Nadia sie zurückfordert, um sie klein zu hacken.
Die nächste halbe Stunde verbringt Levi damit, neben Nadia zu sitzen und ihr beim Kochen zuzuschauen. So wie ich. Als Nadia mir Gemüse zum Schneiden gibt, zieht Levi sich an meinem Bein in den Stand und beobachtet ganz genau, was ich denn da im Auftrag von Nadia so mache.
Während die sibirische Sonne mir die Nase kitzelt und Levi zufrieden in einem unserer zwei Holzbetten schnarcht, kommt mir eine Idee. Mal schauen, was Levi dazu sagt.
Abends im Bett weiß ich, meine Idee war ein voller Erfolg: Nadia hat Levi in ihr Kochen integriert, und er war begeistert. Marianna macht, was ihre Mutter macht. Sie ist einfach bei Nadias Alltag dabei. Also habe ich es auch ausprobiert: Auspacken mit dem zehn Monate alten Levi. Er wollte unsere Kleider zwar, bevor sie von der Tasche in den Schrank gelangten, erst einmal wild durch die Gegend werfen. Aber irgendwann lagen die Kleiderklumpen im Schrank, und wir hatten Bauchschmerzen vor Lachen. Zweiter Versuch: Flaschen waschen und Milchpulver abfüllen mit Levi: Mit ernster Miene saß Levi mit mir vor der Schüssel und rührte mit der Putzbürste in den Flaschen rum. Am Ende wollte er die Bürste gar nicht mehr aus den Händen geben und veranstaltete stattdessen einen Orkan in der Schüssel, sodass ich ihn umziehen musste – aber gut. Beim Milchpulverabfüllen hielt er mit ernster Miene den Behälter fest, während ich mit ebenso ernster Miene das Pulver einstreute. Als wir fertig waren, holte Levi zwar den Milchpulverbecher immer wieder aus dem Regal und rollte ihn durch die Gegend, aber der Verschluss hielt.
Obwohl er erst zehn Monate alt ist, tut es ihm gut, Beiträge zu unserem Leben zu leisten. Mitzuhelfen. Er war richtig stolz, als ich ihm ein Kleidungsstück und die Putzbürste in die Hand gedrückt hatte. Also habe ich beschlossen, alle Alltagsdinge, die während unserer Reise anfallen – Flaschen waschen, packen, einkaufen – von heute an mit Levi gemeinsam zu machen. Bisher hatte ich gedacht, dass ich das Levi nicht antun könnte. Dass dann zu viel Spielzeit verloren ginge. Er zu kurz kommt. Zu wenig Spaß hat. Zu wenig lernt?
Doch nun hat Levi mich eines Besseren belehrt.
Es macht ihm Spaß, bei unseren alltäglichen Dingen zu helfen, und es erfüllt ihn mit Stolz, Beiträge zu unserem Leben leisten zu können. Sinn zu erleben. Dabei sein und mitmachen ist für ihn spannender als Babyspielzeug. Darüber hinaus kann ich jetzt, wenn er schläft, mal was Levifreies machen. Vielleicht sogar mal gar nichts machen und einfach nur rumhängen. Auf einem sonnigen Balkon mit Baikalblick. Herrlich.
Natürlich finde ich das mit dem Video nicht optimal. Das werde ich nicht in unseren Alltag einbauen. Aber was den Rest betrifft, beginnen meine Vorstellungen von frühkindlicher Förderung zu wackeln: Ist das Leben vielleicht doch die bessere Schule als Babykurse und Kinderakademien? Zumindest, wenn der Alltag so spannend ist wie hier entlang der Transsibirischen Eisenbahn?
Auf jeden Fall scheint ein kleiner Schritt in Richtung transsibirisches München darin zu bestehen, Levi in mein Leben zu integrieren, ihn an meinem Leben teilhaben zu lassen, statt mein Leben zu einer Vorstellung von optimalem Leben mit Kind umzubauen, bei der unklar ist, woher diese Vorstellungen eigentlich stammen, und mehr als fraglich, ob sie tatsächlich gut sind. Für Levi. Und für mich.
Vielleicht kann ich mit etwas Kreativität Transsibirien, so wie Levi und ich es erleben, in München auferstehen lassen?
Und schwups ist sie wieder da: die Nervosität vor dem Nachhausekommen. Mann, warum kann man in Deutschland nicht einfach Kinder bekommen? Warum sind all diese Stimmen, wie ein Leben mit Kindern optimal zu gestalten sei, nur so laut? Warum kann ich das nicht einfach ignorieren? Dieser ganze Berg an vorgeblichen Nachteilen und Hindernissen – Kinder kosten, Kinder killen die Karriere und die Beziehung, das Leben mit Kindern muss organisiert werden, das Kind muss in den richtigen Kindergarten, es muss richtig gefördert werden, bevor es in die Schule kommt
Weitere Kostenlose Bücher