Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
– führt doch nur dazu, dass keiner mehr Kinder will. Und dass diejenigen, die es dennoch wagen, verkrampfen. Aus Angst, es nicht richtig zu machen. Dem Kind die Chancen zu versauen. Oder es nicht hinzubekommen mit Beruf und Familie. Ganz schnell werden aus den fröhlichen Kindern Statussymbole: für die eigene Organisationsfähigkeit. Für die eigene Härte gegen sich selbst: Ich schaffe das!
Warum kann ich nicht einfach nur Kinder bekommen, das genießen und mein Leben beibehalten? Warum wird Kinderbekommen und Kinderhaben in Deutschland so ideologisiert? So verkompliziert? Warum rümpfen so viele Menschen in Deutschland die Nase, wenn Eltern Kinder mit in ein Restaurant bringen? Sie waren doch selbst auch mal fröhliche, neugierige Hosenscheißer? Ist die Ablehnung von Kindern in unserer Gesellschaft letztlich Ausdruck einer in unserer Kultur verankerten Furcht vor dem Ungeplanten? Der Furcht vor Spontanität? Der Angst, dass andere einen auslachen? Existiert in der deutschen Kultur, in deutschen Unternehmen, in der deutschen Politik vielleicht eine tief verankerte Angst vor Kindern? Beziehungsweise vor den kindlichen Eigenschaften: Fragen stellen, neugierig sein, laut sein, aus der Reihe tanzen, fröhlich sein, emotional sein? Vor dem Direktsein?
Ein Kind zeigt deutlich, was es will. Und was nicht. Mit wem es gerade spielen will. Und mit wem nicht. Führt vielleicht die Furcht vor der kindlichen Direktheit, der ungebremsten kindlichen Emotion dazu, dass Kinder in der deutschen Gesellschaft eher ungern gesehen sind? Dass Eltern sich im Arbeitsleben wie kinderlose Menschen verhalten müssen? Aus Furcht, wenn die Eltern zu viel Zeit mit ihren Kindern verbringen – dann könnte das abfärben? Und der Vater auf einmal in der Firma anfangen zu sagen: Nein! Ich will das so nicht! Bringen Menschen, die direkt sind, die mit ihren Gefühlen im Einklang leben, unser System ins Wanken?
Am nächsten Morgen sitzt ein Mann in der Küche und schläft. Sein Kopf ist vornübergebeugt und baumelt wenige Zentimeter oberhalb der Oberschenkel. Seine Haut wirkt staubig dunkel. Seine Haare sind pechschwarz und nachlässig zu einem Zopf zusammengebunden.
Nadia beseitigt die Reste des Frühstücks und beginnt mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Marianna strampelt in der Babyhüpfschaukel im Kücheneingang.
»Alicer, der Vater von Marianna«, erklärt Nadia. Und ihre Augen blitzen: » Useful man «, sagt sie.
Da ich im Angesicht des Schlafenden keine Lust auf problematische Beziehungsgespräche habe, frage ich nicht weiter nach. »Schöner Name«, gebe ich zurück. »So unrussisch.«
Da Alicer aufwacht, frage ich, was er so macht hier in Bolschije Koty, aber er versteht kein Englisch. Dafür greift er sich ein Bilderbuch, legt sich neben Marianna auf den Boden und liest mit ihr. Levi setzt sich daneben und lauscht konzentriert der plötzlich wieder erstaunlich fremd klingenden Sprache. Ist das Russisch?
Ich lege das Wer brüllt denn da -Buch mit echten Tierstimmen neben meinen Sohn und beobachte, wie er unter den staunenden Augen von Marianna und Alicer mit seinem treffsicheren kleinen Zeigefinger die Tiere zum Leben erweckt.
Natascha erklärt mir, dass es in Bolschije Koty neben einem Besuch des Baikalmuseums, das von den Mitarbeitern der biologischen Forschungsstation eingerichtet und gepflegt wird, drei Dinge zu tun gebe: Eine Küstenwanderung nach Norden, die fast um den ganzen See herum führt, wenn man die Zeit hat. Eine Küstenwanderung nach Süden, nach Listwjanka. Und eine Wanderung nach Westen, die Berge hinauf durch den Wald zu verschiedenen Lichtungen mit schönem Ausblick.
»Alleine im Wald habe ich Angst, vor den Bären«, versuche ich zu witzeln.
»Das brauchst du nicht, im Sommer haben die Bären genug zu fressen und meiden Menschen eher!«, gibt Natascha ernsthaft zurück.
Hilfe! Aber war eigentlich klar, dass es hier Bären gibt.
Mit meiner Entscheidung für die Wanderung nach Norden löse ich eine kurze Diskussion zwischen Mutter und Tochter aus: Nadia hält die Wanderung mit Levi für zu gefährlich: Der Pfad sei schmal, manchmal ausgesetzt und insgesamt recht kraxelig. Sie empfiehlt den befestigteren Weg nach Listwjanka. Aber dahin zieht es mich heute nicht.
»Ach was!«, sagt Natascha. »Julia hat gute Schuhe und wache Augen.« Und zu mir gewandt: »Ist wunderschön, es wird dir gefallen!«
Also schnalle ich mir Levi, meine Kamera und den Rucksack, vollgepackt mit Bekleidung und Gläschen
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