Mut Proben
handfesten Havarien entwickeln können.
Weick und Sutcliffe haben Feuerwehrspezialeinheiten, Mannschaften auf Flugzeugträgern, Belegschaften in Atomkraftwerken untersucht. Die Zauberformel dieser Unternehmen, die permanent am Rande der Katastrophe arbeiten, laute »Achtsamkeit«. Diese Empfehlung richten Weick und Sutcliffe an alle Unternehmen. Erfolg stelle sich ein durch Menschen, die mit dem Unerwarteten rechnen, ein Gespür für Veränderungen haben, die improvisieren können und das Können ihrer Kollegen respektieren, egal welchen Rang diese bekleiden.
»Problem-Erspürer«, so die Forscher, seien selten Chefs, sondern Praktiker vor Ort. Darum delegieren Brandbekämpfer in der Zentrale so viele Entscheidungen wie möglich an ihre Leute an der glühenden Front im Wald. In Krankenhäusern gelten jene Stationen als besonders leistungsfähig, deren Mitarbeiter ermutigt werden, miteinander über Fehler zu reden. Eine starre Hierarchie scheint ähnlich tödlich wie der Glaube an Routine und Automatisierung.
Was Ärzte und Piloten, Facharbeiter und Feuerwehrleute an der Schnittstelle von Mensch und Maschine tun, lässt sich mit den Abenteuern eines professionellen Extrembergsteigers vergleichen. Sie sind erfahren und trainiert. Ihre Ausrüstung handhaben sie wie im Schlaf. Zuschauern treibt ihr Tun den Schweiß auf die Stirn, sie selbst fühlen sich sicher. Sie sind auf alle Eventualitäten vorbereitet. Sie wissen: Es kann schiefgehen. Sie glauben: Es haut schon hin.
Sicherheit, sagen Weick und Sutcliffe, sei etwas Flüchtiges, »ein dynamisches Nicht-Ereignis«, lediglich »ein Fehler, der nicht eintritt«. Risiken lassen sich nicht wegrechnen. Ein Kessel kann explodieren, ein Zug entgleisen, der Kern in einem Reaktor schmelzen. Niemand weiß, wann. Die Zukunft bleibt ein Geheimnis. Das Unbekannte kann in ein Unglück münden, muss aber nicht. Genau diese Spannung beflügelt die menschliche Kreativität und bewirkt, dass – meistens – alles gut wird. Der Sozioökonom Fritz Böhle fordert einen »souveränen Umgang mit Ungewissheit«.
Aber ist dieser Anspruch in einer planungsversessenen Welt, in der Welt der Industrie, umsetzbar?
Der Psychologe Richard Wiseman stellte fest, dass menschliche Glückspilze sich durch Offenheit und Intuition, Vertrauen und Optimismus auszeichnen. 141 Prächtige Exemplare dieser Art fand er ausgerechnet in der Arbeitswelt. Den Flugsicherheitsingenieur Robert etwa, der nach technischen Mängeln in Großraumflugzeugen fahndet. Von seinem Können hängt ab, ob eine Passagiermaschine abstürzt oder nicht. Während seine Kollegen die Elektronik stundenlang systematisch, Abschnitt für Abschnitt prüfen, um einen Fehler zu finden, geht Robert häufig einer Ahnung nach. »Oft habe ich so ein Gefühl«, sagt er, »dass ich einfach nur hingehe und mit dem Finger auf die defekte Stelle deute. Obwohl so ein Flugzeug ein riesiges, komplexes Gebilde ist, weiß ich auf Anhieb, wo der Fehler liegt.«
Diese Gabe ist nicht vom Himmel gefallen; seine intuitiven Eingebungen basieren auf jahrelanger Erfahrung. »Seinem Unbewussten«, erläutert Wiseman, »ist es gelungen, mehr darüber zu lernen, als Robert bewusst erklären kann.«
Bei Wacker Chemie im bayerischen Burghausen ist etwas Ähnliches passiert. Das Management entschied vor zehn Jahren, ermutigt durch die Modellversuchsreihe »Erfahrungswissen« des Bundesinstituts für Berufsbildung, die Ausbildung des Nachwuchses vom Kopf auf die Füße zu stellen. Im Hauptwerk winden sich auf einem kleinstadtgroßen Areal Hunderte Rohre, durch die giftige, stinkende, feuergefährliche Substanzen in turmhohe Anlagen gepumpt werden. Bei winterlichen Temperaturen reagiert diese Technik anders als bei sommerlicher Hitze. Und mit dem natürlichen Verschleiß von Ventilen und Dichtungen ändert sich die Durchlaufgeschwindigkeit. Den Arbeitern hier war schon immer klar, dass ein Gespür für die Macken solcher chemischen Großapparaturen hilft.
Früher wurde den Auszubildenden im Klassenraum des Wacker-Berufsbildungswerks zunächst die Theorie einer Destillationsanlage nahegebracht. Anschließend nahmen sie Aufstellung vor einem zwei Stockwerke hohen Simulator aus Edelstahl und Glas und lauschten den Ausführungen des Ausbilders.
Heute klettern die Neulinge schon am ersten Tag über Leitungen und Rohre, steigen Treppchen empor und kriechen über Gitterböden, um zu zeichnen, was ihnen auffällt: Kessel, Destillationskolonnen, Temperatur- und
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