Mut Proben
Druckmessgeräte – »ohne zu wissen, was die im Einzelnen bedeuten«, sagt Ingenieur Peter Woicke, damals Leiter des Ausbildungsprojekts. »Die jungen Leute bekommen ein Bild von der Anlage und ein Gefühl für sie. Das werden sie nie vergessen.« Am Rechner des Simulators lassen die Azubis Dampf ab oder erhöhen den Druck und machen Fehler, so ist es gedacht. Nebenbei führen sie ein Tagebuch, in dem sie notieren, was sie sehen, hören, fühlen und was ihr Riecher wahrnimmt: Essigsäure, Erdbeeraroma oder Kabelbrand.
Als die Welt den Helden vom Hudson bejubelte, dachte Woicke an seine Schützlinge. So wie Sullenberger trainiert hatte, um in einer Extremsituation die richtige Entscheidung zu treffen, so stellt Woicke sich die Ausbildung vor. Die angehenden Chemikanten sollen »gestalten und spüren, wann eine Anlage nach oben, wann nach unten ausbricht«. Sie sollen etwas »erleben, das sie auf das völlig Unerwartete vorbereitet«.
»Wir leben für die Anlage«
Wenn dagegen Eberhard Hoffmann an die Manöver über New York denkt, überkommt ihn nur Grauen. »Der Pilot war die einzige Sicherheitsebene, die noch vorhanden war«, sagt er. Für ein Kernkraftwerk sei das untragbar: »Das ist nicht abhängig von Menschen.«
Hoffmann leitet die Kraftwerks-Simulator-Gesellschaft – KSG – in Essen-Kupferdreh, wo Betriebsmannschaften aus sechzehn deutschen Kernkraftwerken den Störfall üben. Was in diesen Anlagen vorgeht, unterscheidet sich von allen anderen Mensch-Maschine-Systemen. In der KSG wird ein ganz eigener Menschentypus gepflegt.
Von außen wirkt das braune Gebäude wie ein Oberstufenzentrum aus den Siebzigerjahren, innen wurden für dreihundert Millionen Euro die Leitwarten von Neckarwestheim bis Brokdorf detailgetreu bis zur Farbe der Telefone nachgebildet. Wenn man Hoffmann sieht, fallen einem Geometrieübungen aus dem Rechenbuch ein. Sein Gesicht ist rund, seine Brillenfassung rechteckig, seinen Schnäuzer hat er akkurat zum Trapez gestutzt. Ein Reaktor, sagt er, sei »unheimlich humorlos«.
Wenig anders sollen die Steuerleute sein. »Ich brauche einen Typus, der nicht rumbastelt, nicht ausprobiert, der auch nicht wissensbasiert, sondern regelbasiert arbeitet.« Hoffmanns Gesicht färbt sich wutrot, wenn man ihn nach der Kreativität seiner Leute und der idealen Stimmung in der Leitwarte fragt.
»In der Warte spürt man nichts«, sagt er. In einem Kernkraftwerk nach Gefühl zu arbeiten, sei »unmöglich«. Und auch nicht wünschenswert: »Der Mensch irrt, er handelt falsch.«
Männer wie Manfred Stocker lassen sich jedoch nicht die Gefühle zu »ihrer« Maschine verbieten, und wenn es ein Reaktor ist. Stocker hat in den vergangenen zwanzig Jahren im Block C des Kernkraftwerks Gundremmingen, dem leistungsstärksten Atommeiler Deutschlands, jede Schraube kennengelernt, an Hunderten Ventilen geschraubt. Er ist Schichtleiter, neunundvierzig, ein großer, freundlicher Mann. Er habe »ein Gespür für die Anlage« entwickelt, erzählt der Bayer. »Ich weiß, wo es zuweilen hängt. Einige Ventile machen immer Probleme.« Aber das habe er im Griff – mit der Zeit »kennt man eben seine Kameraden«.
Stocker hegt echte Gefühle für diese »faszinierende Technik«. Er und seine Mannschaft: »Wir identifizieren uns mit der Anlage. Wir leben für sie.«
Seit im amerikanischen Meiler von Three Mile Island bei Harrisburg sich 1979 vier Probleme gegenseitig hochschaukelten und in einer Kernschmelze mündeten, gilt in der Atomindustrie als größter Risikofaktor: der Mensch. Die Mannschaft begriff nicht, was in dem Druckbehälter schieflief. Sie traf Entscheidungen, die das Chaos vergrößerten. Der Extremfall überforderte sie umso mehr, als sie trainiert waren, in die Anlage möglichst gar nicht einzugreifen. Diese Deprofessionalisierung von Technikern nennt man das »Harrisburg-Syndrom«.
Es gilt im Prinzip bis heute. Mut, Risikobereitschaft, ein Problem zu lösen, ist das Letzte, was im AKW gefragt ist. Stattdessen gilt es, die »Fehlerquelle« Mensch noch weiter zu eliminieren. Die Operatoren im Kontrollraum sollen gar nicht mehr nach der Ursache einer Störung forschen, sondern »symptomorientiert« vorgehen. Was einen vier Meter langen Regelstab beim Eintauchen ins hoch erhitzte Wasser aufgehalten haben könnte, soll die Männer gar nicht interessieren. Sie sollen sich die Anlage nicht plastisch vorstellen, nicht nach der Ursache fahnden. Sie sollen bloß aus dem Regal mit den neunundsechzig Bänden des
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