Mutter des Monats
könnte sogar behaupten, dass sich eine Revolution ereignet hatte, zumindest für die beschränkten Verhältnisse ihrer kleinen Schule. Grrr, dachte Rachel, ich stehe auf Bekanntmachungen.
»Komm, lass los, was Dich knebelt,
schau nach vorn,
wo die Zukunft gelingt.«
Sie ließ den Blick über die singende Versammlung wandern. Da war Heather, weder traurig noch verhuscht, sondern regelrecht strahlend. Das, was an diesem Nachmittag stattgefunden hatte, kam einer Verwandlung gleich. Dann fiel ihr Blick auf Georgina, die seltsamerweise mitten im Getümmel stand. Und auf Joanna, die, dicht an ihre Freundin geschmiegt, schon erheblich besser aussah. Sie hatte sich offensichtlich noch nicht ganz erholt – war das überhaupt möglich? –, aber es ging ganz deutlich bergauf. Sie fühlte sich sichtlich wohl, hier in der Menge.
»Der Ort ist gar nicht fern,
Du findest ihn ganz leicht,
wirf nur die Routine ab
und Du hast ihn schon erreicht.«
Die Menge war größer geworden, weitere Elternpaare waren dazugekommen. Es war eng, alle mussten zusammenrücken. Witzig, dachte Rachel: Wir sind grundsätzlich friedliche Menschen, die Großen wie die Kleinen, wohlerzogene, höfliche, ganz normale Menschen, die ein ruhiges, einfaches, geordnetes Leben führten. Und doch sind wir heute Nachmittag so stark und kraftvoll, stehen Seite an Seite und singen aus einer Kehle. Auf dem Schulhof, den der Prince of Wales vor einem Jahrhundert eingeweiht hat, an derselben Stelle wie Mr Stanley, als er vor der ganzen Schule sprach, genau dort, wo der alte Luftschutzbunker gestanden hat. Sie hob ihr Gesicht in die für die Jahreszeit schon sehr warme Sonne und sah dem Flugzeug zu, das im Sommerhimmel eine perfekte Kurve beschrieb. Von da oben können die uns bestimmt sehen, dachte sie, wir sind eine große Menge Menschen, die alle dasselbe tun und auf derselben Seite stehen. Unsere gemeinsamen Wurzeln verbinden uns. Man kann uns nicht übersehen. Wir sind ziemlich stark, eine ernst zu nehmende Größe.
»Es gibt zwei Dinge an unserer Bibliothek, die ich richtig toll finde. Erstens: Es stehen Bücher drin.«
Die Kinder brüllten vor Lachen.
»Und zweitens: Jeder hat irgendwas dazu beigetragen. Das hier ist wirklich unsere Bibliothek, deswegen ist sie auch was Besonderes. Da gibt es eine Tafel mit einer lateinischen Inschrift, die Freddie umgehend für euch übersetzen wird.« Mr Orchard schnippte mit den Fingern.
Alle grölten, vor allem Freddie. Deborah fiel es schwer, dem Humor zu folgen. Wenn Mr Orchard mit den Kindern loslegte, brauchte man Untertitel, um alles zu verstehen.
»Und unsere Vorsitzende – eine wichtige Dame – wird sie nun für uns enthüllen. Leider ist unsere Bibliothek nicht nur sehr besonders, sondern auch sehr klein, deshalb passen wir nicht alle auf einmal rein. Für die Enthüllung würde ich deshalb gern die Beiräte und das Komitee zuerst hereinbitten.«
Aus zwei Gründen wünschte Deborah, sie hätte heute nicht den großen Hut aufgesetzt. Erstens, weil niemand anderes einen trug, und zweitens, weil sie damit schlecht durch die Tür zur Bibliothek passte. Sie duckte sich und quetschte sich hinter Bea und direkt vor Colette hinein. Während sie sich wegen dieser Entscheidung verfluchte – es passierte selten, dass Deborah wirklich sauer war, wenn sie die falschen Entscheidungen traf –, bemerkte sie ihre Umgebung und hielt inne.
Die neue Bibliothek von St. Ambrose war der wundervollste Ort, den sie je gesehen hatte. Und mit wundervollen Orten kannte Deborah sich aus. Die alten Schuppen und Lagerräume, die diese strengen Viktorianer da zusammengezimmert hatten, hatten ein unglaubliches Feng-Shui! Wer kannte damals schon Feng-Shui? Durch den Abriss der Innenwände war ein sechseckiger Raum entstanden, und an jeder Wand standen Bücherregale und Sitzbänke wie Blütenblätter. Die Wände waren sonnengelb gestrichen, und Rachels Zeitleiste, die sie offen gestanden schrecklich gelangweilt hatte – lauter Alte, Verwundete und Tote, Deborah lebte lieber im Hier und Jetzt –, egal, jedenfalls: Sie war wirklich total und völlig bezaubernd geworden.
Während Deborah die Einzelheiten studierte, beschlich sie das Gefühl, hier sogar noch etwas lernen zu können. Zumindest merkte sie zum ersten Mal, dass sie über bestimmte Dinge nachdachte. Man stelle sich vor, die Jungs und Mädels mussten damals tatsächlich durch separate Eingänge in die Schule marschieren … gar keine schlechte Idee. Milo wäre bestimmt viel
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