Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Strecke. Im Augenblick liegen zwei Entwürfe einer Broschüre auf meinem Schreibtisch. Hierzu brauche ich passendes Bildmaterial, und die Texte müssen überarbeitet werden. Doch dazu war heute keine Zeit, vor allem aber keine Ruhe, die ich zum Nachdenken unbedingt brauche. Ich werde am Abend nacharbeiten müssen.
Als ich zu Hause ankomme und dort in die Einfahrt einbiege, befällt mich ein flaues Gefühl im Magen. Seit einiger Zeit hat Tessa es sich zur Gewohnheit gemacht, mich im Treppenhaus abzufangen und über den aktuellen Gesundheitszustand, insbesondere meiner Mutter, Bericht zu erstatten. Zu Beginn fiel mir nicht auf, wie sehr es mich belastet, täglich ausführlich über die Essgewohnheiten sowie andere weniger schöne Gewohnheiten informiert zu werden. Doch meine Stimmung wird von Tag zu Tag schlechter, wenn ich den Hausflur betrete. Mein Kopf ist voll mit tausend Dingen, wenn ich nach Hause komme: Der Hund muss raus, Lena braucht ein Mittagessen und muss bei den Hausaufgaben beaufsichtigt werden, ein Arzttermin steht an, es muss eingekauft werden. Ich habe keine Zeit für das Geplänkel der Pflegerinnen.
Vorsichtig stecke ich den Schlüssel ins Schloss und versuche, ins Treppenhaus zu schleichen. Hoffentlich hört mich keiner, denke ich. Doch genauso leise wie ich die Haustür hinter mir schließe, öffnet sich die Wohnungstür meiner Eltern. Tessa steht in der Tür und legt ihren Finger auf die gespitzten Lippen.
»Hallo!«, flüstert sie, sichtlich zufrieden. »Deiner Mutter geht es heute gut. Sie hat einen Joghurt gegessen und eine Banane! Auf der Toilette war sie auch schon!«
Bevor sie noch mehr ins Detail gehen kann, sage ich schnell »Ah ja! Danke! Bis später!« und flüchte nach oben in den ersten Stock.
Eine unglaubliche Wut kommt in mir hoch. Warum muss ich das täglich hören? Kann ich nicht einfach nur Tochter sein? Muss ich all die Details bis ins Letzte erfahren? Dabei kümmere ich mich doch schon um alles, was meine Eltern benötigen.
Es ist selbstverständlich, dass ich da bin, wenn sie mich brauchen. Ich habe das nie infrage gestellt. Ganz gleich, ob ich in ihrem Haus wohne oder nicht – nie würde ich meine Eltern im Stich lassen. Sie würden sich genauso verhalten. Es ist doch selbstverständlich, dass man mal die Einkäufe erledigt, im Haushalt hilft, wenn es nicht mehr geht, oder dass man den ein oder anderen Fahrdienst übernimmt und die Korrespondenz. Aber wie hat sich das mittlerweile entwickelt? Ich fühle mich wie eine leitende Stationsschwester im Krankenhaus, die jeden Tag neue Lösungen finden und immer ein offenes Ohr haben muss. Und alle scheinen vergessen zu haben, dass ich die Tochter bin und die beiden Patienten im Erdgeschoss meine Eltern.
Ich stehe in der Küche und starre auf die Herdplatte, auf der noch nichts kocht. Gleich wird Lena mit einem riesigen Hunger von der Schule kommen. Aber ich bin total blockiert, weil mir das Herz bis zum Hals schlägt. Ich kann es nicht mehr ertragen, hallt es in meinem Kopf. Dieses siegreiche Lächeln der Pflegerin mit der Botschaft, dass meine Mutter einen Joghurt gegessen hat! Wie soll ich erklären, dass ich mich nicht genauso über solche Details freue wie sie? Dass ich diese Kleinigkeiten überhaupt nicht wissen will? Meine Mutter ist ganz gewiss nicht mein Baby, doch genau so benehmen sich alle!
Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, fühle ich mich schlecht. Doch ich kann einfach nicht mehr. Es gibt keinen Rückzugsraum mehr für mich. Die Pflege der Eltern und deren Gesundheitszustand beherrschen rund um die Uhr mein Leben.
Langsam beruhige ich mich wieder. Durchs Küchenfenster sehe ich unsere Tochter, sie schlendert auf das Haus zu. Rasch nehme ich einen Kochtopf und zaubere ein paar Nudeln für uns beide. Ihr fröhliches Geplapper ein paar Minuten später verscheucht meine Gedanken für den Moment, doch ich nehme mir fest vor, nach einer Lösung zu suchen.
Am Nachmittag scheint die Sonne. Lena und ich sitzen auf dem Balkon. Ich trinke einen Kaffee, Lena macht Hausaufgaben. Die Terrasse meiner Eltern ist genau unter uns. So höre ich, wie die Pflegerin meine Mutter mit ihrem Rollstuhl nach draußen schiebt. Schnell rutsche ich mit meinem Stuhl etwas an die Hauswand zurück. Ich will auf gar keinen Fall, dass Tessa mich bemerkt. Doch es ist zu spät. Sie geht ein Stück in den Garten hinein und ruft nach oben.
»Martina? Bist du da?«
Am liebsten hätte ich gebrüllt: NEIN ! ICH BIN NICHT DA ! Aber ich
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