Mutterschuldgefuehl
lauert der Abgrund. Keine Mutter, die sich im öffentlichen Raum anerkannt sehen will, kann mal locker so in den Tag hinein leben, schon gar nicht, seit es diese Kehrseite der Medaille gibt, die Mutterschuld. Der Grundgedanke lautet hier: Die Weichen für die Karrieren der Kinder müssen frühzeitig gestellt werden. Glück ist machbar - Pech allerdings auch. Die beunruhigende Botschaft der Psychologen ist: Wenn die Kinderstube versagt, droht lebenslanges Unglück.
Der Psychoboom, der hier Müttern heute arg zu schaffen macht - denn sie sind es nun mal, die sich immer noch hauptsächlich um die Kinder kümmern -, kam in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf. Bis heute hält sich hartnäckig die These - so beschreibt es 1975 der Psychoanalytiker Kurt Eissler, zitiert von Ursula Nuber in ihrem Buch Der Mythos vom Frühen Trauma -, dass
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» ⦠die Ereignisse der ersten fünf Lebensjahre darüber entscheiden, ob aus dem Kind später ein Verbrecher oder ein Heiliger wird, ein Durchschnittsbürger oder ein Spitzenkönner, ein gesunder, angepaÃter Mensch oder einer, den Neurose und Depression zerreiÃen .«
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Obwohl es zunehmend kritische Stimmen gibt, die es etwas übertrieben und einseitig finden, dass Hinz und Kunz ihre desaströsen Gefühle und missratenen Handlungen bis
an ihr Lebensende mit dem Verhalten ihrer Mütter rechtfertigen können, ist der Gedanke in unser aller Leben an eine übermächtige Mutter allzu plausibel, als dass er sich schnell verflöge, und er wird immer wieder gerne in der ein oder anderen Form verbreitet. Es ist doch viel zu umständlich, in irgendwelchen komplexen Systemen zu suchen wie etwa auch in den biologischen Veranlagungen, vielleicht sogar die Lebensgeschichte eingehend zu untersuchen oder gar die Entwicklungen in einer Gesellschaft und den Umgang des einzelnen Menschen näher zu beleuchten. Nein, es ist weitaus einfacher, eine klare, greifbare Ursache zu haben, die auch noch schuldbewusst und stumm den Kopf senkt.
Das besonders Nette an der Mutterschuld ist, dass man trotz aller Kritik erstens nicht genau weiÃ, was eine Mutter denn nun tun muss, damit ihr Kind ein Heiliger oder ein Spitzenkönner wird, und zweitens eigentlich überall Menschen verbrecherisch, neurotisch und depressiv werden, auffallend wenige aber als Spitzenkönner, Heilige und gesunde, angepasste Menschen durch die Welt wandeln, sodass generell erst einmal ein abgrundtiefes MiÃtrauen gegen jedwede Erziehung einer jeden Mutter besteht. Und heillose Verwirrung entsteht, wenn selbst Spitzenkönner von Depressionen zerrissen werden und Durchschnittsbürger zu Verbrechern werden. Im Grunde ist die gesamte Kinderaufzucht verrottet.
Mütter von Superhelden werden selten geehrt, Mütter von Verbrechern und Kranken werden täglich millionenfach verachtet. Jeder Mensch wäre makellos und zu wahrhafter GröÃe fähig - wenn ihn nicht die Kinderstube in den ersten fünf Jahren versauen würde.
Der kleine Nachteil dieser so überaus beliebten Erstenfünf-Jahres-Theorie ist, dass sie jeden einzelnen Menschen zum lebenslangen Opfer seiner Kinderstube verdonnert. Wie soll ich mein Leben gestalten, wenn alles schon zu Hause vorherbestimmt ist? Bei manch einem empfindsamen Individuum löst dieser Gedanke hilfloses Entsetzen und lebenslanges Opfergefühl aus - denn wie soll man die Vergangenheit ändern? Der freie Wille, der jeden Menschen theoretisch befähigt, trotz allem oder gerade deswegen anders zu leben,
als man aufgrund seiner oder ihrer Kinderstube vermuten könnte, spielt in der Fünf-Jahres-Theorie keine Rolle.
Auch ist es fragwürdig, ob tatsächlich alle Neurosen, Psychosen oder Depressionen in unserer Gesellschaft in den ersten fünf Lebensjahren begründet liegen. Ja, vielleicht sind sie sogar ganz gesunde Reaktionen auf ungesunde Verhältnisse. Es ist zwar verständlich, aber doch etwas naiv gedacht, dass der Mensch, selbst wenn er perfekt entwickelt ist und gefördert wurde, stets glücklich, gesund und erfolgreich ist. Leben wir denn im Paradies? Na also.
Aber diese kleinen Haken der Fünf-Jahres-Theorie sind offenbar nicht gewichtig genug, um die Schuldenlast von Müttern zu mindern. Es hat sich nicht rumgesprochen, dass da etwas nicht logisch oder zu kurz gedacht ist. Oder dass man die Entwicklung eines Menschen nicht einfach berechnen kann. Macht nichts.
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