Mutterschuldgefuehl
groÃe Boulevardzeitung hat vor einigen Jahren errechnet, dass eine Entbindung circa 10.000 Kilokalorien verbrennt, ist allerdings die Auskunft schuldig geblieben, wie lange sie dazu dauern muss und welcher Art sie beschaffen ist. Hat auch Ihre Hebamme Ihnen erzählt, dass aber gerade die Art, wie Frauen ihr Kind gebären, ein untrügliches Zeichen ihres Charakters ist? Oder haben Sie das wenigstens in einem Ihrer Bücher gelesen? Nein? Sie Glückliche.
Mich hat das Wissen um die unerbittliche Wertung manche schlaflose Nacht gekostet. Was wäre, wenn ich in einem Anfall schonungsloser charakterlicher Offenheit meinen unschuldigen Mann wüst während der Wehen beschimpfen würde? Ein - so laut amerikanischer Frauenliteratur - glasklarer Beweis für eine zerrüttete Ehe. Müsste ich dann mein Kind alleine erziehen?
Oder: Wie sollte ich, die ich mich immer für selbstständig gehalten habe, mir jemals wieder in die Augen sehen können, wenn ich unter Schmerzen wimmernd an der starken Hand des zukünftigen Vaters hinge? Müsste ich dann in Therapie
gehen? Wie sollte ich das schaffen mit einem Neugeborenen?
Schwer beeindruckt haben mich auch die Schilderungen in der esoterischen Frauenliteratur. Diese Gebärende, die während der Wehen in tranceartige Zustände fiel, sich mit dem Schmerz vereinte, alle Anwesenden in Ehrfurcht versinken lieÃ, die Augen aufschlug und ruhig sagte: »Es ist so weit!« Sie öffnete stumm die Beine und schenkte der Erde Leben.
Das hat doch Stil! Und ist auch so beliebt!
Originalton meiner netten Hebamme im Geburtsvorbereitungskurs:
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»Diese schreienden Frauen sind furchtbar. Keiner auf der Entbindungsstation hält das aus. Die gehen einem echt auf die Nerven.«
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Nichts gegen meine Hebamme, sie ist ja nicht bösartig, sie ist nur so dumm, das auszuplaudern, was sie und viele ihrer Kolleginnen denken. Aber jetzt möchte man doch noch mal laut zurückbrüllen: »Selbst schuld! Warum müsst ihr uns auch so drängeln?«
Denn in Deutschland wird der natürliche Wehenverlauf immer seltener abgewartet. Die Geburten werden zunehmend zu Hightech-Geburten. CTG (Herztonwehenschreibung), geburtseinleitende MaÃnahmen, PDA (Periduralanästhesie), Damm- und Kaiserschnitt werden immer häufiger eingesetzt. 40 Prozent aller Frauen, die keinen geplanten Kaiserschnitt haben, erhalten heute einen Wehentropf.
Diese Eingriffe in den natürlichen Geburtsablauf haben meist weitere Eingriffe zur Folge. Frauen, deren Geburtsbeginn beschleunigt wurde, haben beispielsweise doppelt so häufig eine PDA, zu 60 Prozent häufiger weitere Wehenmittel und es kommt vermehrt zu Komplikationen und Kaiserschnitten.
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Um der Sicherheit des Neugeborenen und der Mutter geht es bei den Geburtseingriffen oft nicht. Wie Studien zeigen, hat sich der Zustand der Neugeborenen in Deutschland in
den letzten 30 Jahren nicht weiter verbessert, und im europäischen Ausland hat man mit auÃerklinischen Geburten hervorragende Erfahrungen gemacht. Nein, viele Geburtseingriffe geschehen einerseits zur Sicherheit der Ãrzte. Sie sind juristisch abgesichert, wenn sie alle maximalen medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen. Sie können nicht wegen Unterlassung verklagt werden. Zum anderen spielen unerfahrenes Personal und Zeitmangel eine Rolle. Kennen Sie auch so viele Mütter, die zur Geburt einen Wehentropf erhielten, kurz vor Feierabend Wehenhemmer bekamen, um dann am nächsten Morgen wieder lustig am Tropf zu hängen? Und zum dritten sind normale Geburten ohne medizinische Eingriffe schlicht und einfach ökonomisch unattraktiv.
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Aber in meiner Geburtsvorbereitungsphase weià ich das alles noch nicht. Es stand in keinem meiner Ratgeber, und ich lernte es in keinem meiner Kurse. Und ich will es wahrscheinlich auch gar nicht wissen. Nein, in dieser Phase meines Lebens bin ich überzeugt - wie so viele andere werdende Mütter - dass es in der Stunde der Geburt ganz auf mich und meine Vorbereitungen ankommt. Ich muss gestehen, dass ich mich in dieser natürlichsten Sache der Welt einem gewissen Leistungsdruck nicht verschlieÃen kann. Aber ist das ein Wunder? SchlieÃlich geht es ums Ganze. Hier werden zwei neue Leben in einer Leistungsgesellschaft begonnen - das der Mutter und das des Kindes. Da wünscht frau sich natürlich einen glänzenden, vielversprechenden Start.
Und wie Frauen nun einmal
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