Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Hartmann
Vom Netzwerk:
bewältigen; führt Aufgaben ohne ständiges Feedback aus; (…)«
    Â 
    Unter »Motorik«:
    Â 
    Â»(…) hat ein gutes Reaktionsvermögen; ist koordinationsfähig; ist ausdauernd und konzentriert«
    Â 
    Ich könnte noch stundenlang zitieren aus dieser wundervollen Dokumentation. Irre ich mich oder ist der Fokus sehr stark auf Wissen und Leistungsfähigkeit gesetzt? Entsteht hier so eine nette kleine Personalakte für die Kleinsten?

    Auch die Erhebungsbögen, die den Anspruch auf Sprachförderung feststellen und gemeinsam mit dem Dokumentationsbogen bei der Schulanmeldung vorgelegt werden sollen, entlocken mir keine Begeisterungsstürme. SELDAK, (»Sprachentwicklung und Literacy bei deutschsprachig aufwachsenden Kindern«) und SISMIK (»Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen) - die kryptischen Titel stehen im krassen Gegensatz zu ihrer simplen Form. Denn im SELDAK-Bogen etwa wird in neun Kategorien (zum Beispiel »Aktive Sprachkompetenz«, »Zuhören/Sinnverstehen«, »Selbstständiger Umgang mit Bilderbüchern«, »Schreiben/Stift«, »Wortschatz«, »Grammatik«) die Sprechfähigkeit der Kinder in Gruppen von eins bis sechs eingeordnet, wobei wieder mal keine Angaben gemacht werden, auf welchen Beobachtungen die Einordnungen beruhen. Natürlich spiegeln diese Gruppen keine Zensuren wider. Nein, woher denn? Es ist ganz zufällig, dass Gruppe eins die beste und Gruppe sechs die schlechteste Gruppe ist. Allmählich komme ich mir für dumm verkauft vor. Wenn dies tatsächlich keine Zensuren sein sollen, ist der Bogen unsensibel verfasst. Und ganz rechts, ganz klein, stehen ein paar Zeilen und Platz für Anmerkungen: »Bemerkungen bei abweichender Einschätzung durch die Schule« und »Unterschrift des Schulleiters«.
    Und damit sind wir bei dem eigentlichen Adressaten dieser Dokumentation. Denn sie soll ja schließlich dazu dienen, dem Kind einen gelungenen Übergang in die Grundschule zu ermöglichen. Da ist erst mal die Schulleitung interessiert.
    Findige Erzieherinnen schreiben inzwischen ihre Dokumentationstexte an Schulen so geschickt formuliert wie Arbeitgeber die Arbeitszeugnisse. Denn da es untersagt ist, Negativformulierungen zu verwenden, geht man dazu über, gewisse Fähigkeiten einfach nicht zu erwähnen, was ein brauchbarer Hinweis für den Schulleiter sein kann. An anderer Stelle erscheint nett, was gar nicht so gemeint ist. »Matthias ist sehr bewegungsfreudig« heißt wahrscheinlich nicht, dass Matthias ein guter Sportler ist, sondern verweist auf die leidige Tatsache, dass er keine Minute still sitzen kann.

    Wir können nur hoffen, dass alle Erzieherinnen mit dem kniffligen Verfassen von Dokumentationen gut vertraut sind, damit sie nicht unwissentlich geheime Botschaften weitergeben, die gar nicht so gemeint sind. Denn die Grundschulen sind mehr und mehr an diesen Einschätzungen interessiert. Sie stellen immer häufiger ihre Klassen nach diesen Dokumentationen zusammen. Gott sei Dank haben wir niedrige Geburtenraten. Es ist nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn die Schulen nicht auf jeden einzelnen Schüler angewiesen wären. Denn die interessante Frage ist doch: Was passiert mit denen, die den Erwartungen nicht entsprechen?
    Da gibt es Fälle wie den, wo ein Kind zwar erst seit Kurzem die Grundschule besuchte, aber schon bald von der Schulleitung aufgefordert wurde, in eine Förderschule zu wechseln. Als die Eltern protestieren, es sei für eine derartige Entscheidung doch noch zu früh - schließlich sei ihr Kind noch nicht lange auf der Schule -, antwortet die Schulleitung, die Schwierigkeiten hätten doch schon in der Kita bestanden. Man hätte die Dokumentation. Schöne neue Welt.
    Aber was mosere ich denn hier so rum? Die Dokumentation ist doch freiwillig. Ich könnte doch einfach mein Einverständnis verweigern und die Sache wäre gelaufen. Leider ist es nicht ganz so einfach. Denn das mit der Freiwilligkeit funktioniert in etwa so wie mit der Weigerung, sich für das Kinderuntersuchungsheft bei einem Arzt vorzustellen. Wir machen uns verdächtig. Und auch die, die zwar die Einverständniserklärung unterzeichen, aber später bei der Schulanmeldung die Dokumentation über ihr Kind nicht aushändigen - wir haben dazu auch nach der Unterschrift offiziell die Wahl,

Weitere Kostenlose Bücher