Muttersoehnchen
Eltern hätten mit der Information auch wenig anzufangen gewusst. Und die Schüler hatten ihre eigene Wahrheit.
Rolf und ich saßen dem Lehrer beim Elternsprechtag wie augenlose Kartoffeln gegenüber und konnten ihm nur glauben, wenn wir ihn recht freundlich über unser Kind reden hörten, mit verstrubbelten Haaren und müde korrigiertem Blick, der immer nur eines signalisierte: Dank mir geschieht hier das Beste für Ihr Kind. Über seinem Stuhl hing das abgetragene Glenchecksakko mit Lederbesatz an den Ärmeln. Ich misstraute jedem Wort und überlegte kurz, ob ich vom Thema ablenken sollte mit der Frage, ob er vielleicht meinen Mathelehrer kennt, der auch so ein Sakko trug.
Wenn man für sein Kind das Abitur mehr als alles andere auf der Welt will, grummelt man besser im Stillen. Das Gymnasium ist eine Angebotsschule, die freiwillig besucht wird. Jeder kann sie verlassen.
Meine Wut auf das Schulwesen wuchs. Mit jedem weiteren Schuljahr unterstellte ich dem gesamten Kollegium Faulheit und Ignoranz. Immer wieder Stundenausfall und kein Lehrer, der binnen eines Vierteljahrhunderts
gelernt hatte, die Technik zu bedienen. Sollte ein Film gezeigt werden, dauerte es 20 Minuten, bis das Abspielgerät lief. Egal ob Video oder DVD, sie würden es nie lernen. Eine Lehrerin kokettierte sogar mit der eigenen Lernunfähigkeit: »Ich halte in jeder Klasse Ausschau nach einem Schüler, der das kann.«
Die lehrereigenen Wandertage und Weiterbildungen fanden prinzipiell in der Schulzeit statt, der Elternsprechtag auch. Ab 13 Uhr fuhren vor allem die Lehrerinnen mit quietschenden Reifen vom Hof, sie gehörten zu den modernen Karrierefrauen und mussten nach dem Unterricht ihren Haushalt regeln. Die Schule war dann wie ausgestorben, und nachmittags konnte man auch niemanden mehr telefonisch erreichen. Mails waren noch nicht verbreitet, aber als sie aufkamen, half das auch nicht weiter, denn viele Lehrer verweigerten sich der modernen Kommunikation.
Meine ehrgeizigen Ziele durfte ich immer noch nicht offenbaren, vorgeblich ging es immer noch um den Spaß am Lernen. Da gab es bei Maik noch viel Entwicklungspotential. In den Augen seiner Lehrer bot er für den ausgewachsenen Ehrgeiz seiner Mutter viel Angriffsfläche. Er war unkonzentriert und störte durch Schwätzen mit den Sitznachbarn links, rechts, vorn und hinten, er kommunizierte mit allen, die er auf Armeslänge erreichen konnte.
Mein Sohn hatte den Spaß am Lernen noch nicht entdeckt. Im Gegensatz zu den besonders Begabten, und an denen hatte die Lehrerschaft ihre helle Freude, von denen wurde heimlich geschwärmt, die wurden im verdeckten Verfahren ausgewählt, Latein und Französisch parallel zu lernen, oder für einen kostenfreien Schulaufenthalt in England. Sie genossen einen Sonderstatus, während das Mittelfeld derweil unbewirtschaftet blieb. In diesem Umfeld wirkte ein Durchschnittsschüler wie Maik fast schon ärmlich.
Berlins Sonderstatus hatte sich mit der Wiedervereinigung erledigt, und bereits einige Jahre davor schon die berüchtigte Anhörung zur Gewissenserforschung bei Wehrdienstverweigerern. Parallel zur Entspannungspolitik reduzierte die Bundeswehr ihre Truppenstärke seit Anfang der 80er-Jahre kontinuierlich, folglich brauchte sie immer weniger Wehrpflichtige, und mit jedem Jahr wurde auch die Verweigerung
einfacher. Mittlerweile genügt ein Vierzeiler, in dem man sich auf den Grundgesetzartikel beruft. Alles kein Ding mehr. Die Diskussion um die Frage, ob Militär- oder Zivildienst, führten wir so engagiert wie die über eine zweite Fremdsprache. Aber Maik vergewissert sich lieber noch mal, ob das auch so stimmt. Einen Moment lang erschreckt ihn der Gedanke, sie könnten ihn holen.
Rolf ist heute noch stolz auf seine geglückte Verweigerung. Er hat mit Worten statt mit Waffen gekämpft, und daran könnten sich alle Armeen dieser Welt ein Beispiel nehmen, findet er. Die Verweigerung war ein Erlebnis, das ihn geprägt hat. Das wäre auch gut für Maik, aber Rolf sieht ein, dass die Prozedur heute keine vergleichbare Hürde mehr darstellt. Mein Mann ist gegen jede Armee, aber wenn es schon sein muss, ist er für eine Berufsarmee. Die Gefahr des Staates im Staate sieht er durch die Gewaltenteilung verhindert. Diejenigen, die glauben, die allgemeine Wehrpflicht sei immer noch von zentraler Bedeutung für unsere nationale Sicherheitsfrage, waren lange nicht mehr in einer Kaserne.
Rolf war noch nie in einer Kaserne, ist aber meist gut informiert. Und wenn
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