Muttersoehnchen
geknuddelt und atmosphärisch verdichtet: HDL – Hab Dich lieb, LOL – Laughing out loud, FG – frech grinsend oder auch nur Gute N8.
In herausragender Selbstüberschätzung und grenzenloser Naivität glaubte ich nicht an Einflüsse, die stärker sein konnten als meine. An elektronische schon gar nicht. Durch ICQ spiegelte sich Maik durch den Nachmittag, parallel entdeckte er auf derselben Maschine die männliche Welt in Form von Kriegsspielen. Was im Unterricht mühsam unterbunden wurde, kriegte ich zuhause aus gutem Grund erst gar nicht mit. Und so ging es weiter bergab mit den Noten.
Die Konsequenzen blieben nicht aus. In Klasse 9 waren am letzten Schultag vor den Osterferien vier blaue Briefe in der Post: Kunst, Mathe, Religion und Latein. Anderthalb Tage brüllte ich Maik in Grund und Boden, und selbst Rolf gelang es nicht, mich zu beruhigen. Erstaunlicherweise konnte er schneller als ich akzeptieren, dass der Traum vom Abitur gefährdet war. Oder lag es daran, dass mein Mann intuitiv die rationalen Areale seines Hirnes aktivierte, während in mir ein Wirbelsturm der Gefühle tobte? Ich fühlte mich verraten und ausgenutzt: Alles taten wir für den Bengel, und er schaffte noch nicht mal das bisschen Schule. Ich hatte radikale Racheträume, vom Bau und der Hotelküche. Da würde er dann sehen, wie gut er es mal gehabt hatte.
Als Maik auf meine Frage, welche Lehre er denn zu machen gedachte, keine Antwort parat hatte, lud ich aus dem Internet eine Bewerbungsanleitung runter und bestellte gleichzeitig Übungshefte mit Lösungen in den Fächern Mathe und Latein. Beides hielt ich ihm unter die Nase und zeigte ihm mit dem Zeigefinger die beiden Optionen für seine Zukunft auf: Bewerben oder üben. Er schluckte einmal und wollte üben.
Am nächsten Morgen weckte ich meinen Sohn um acht, ab neun machte er sich an die Aufgaben. Ich kaufte Kleister, Farbe, dazu einen neuen Akkuschrauber, und ich setzte Lysa an das Kunstprojekt, das ihr Bruder nach den Ferien abgeben sollte, die perspektivische Betrachtung eines Motorradfahrers, der eine Landstraße entlangfährt. Sie malte, klebte und schraubte ordentlich zusammen, was er im Unterricht nur flüchtig zusammen getackert hatte. Und sie erwähnte nebenbei, nun wisse sie, was zu tun sei, wenn sie mal mehr Aufmerksamkeit brauche. Ich saß daneben, bemalte Ostereier und strickte den ersten Pullover seit 20 Jahren. Ich wollte nicht aufgeben.
In Sachen Bundeswehr will ich auch nicht aufgeben, aber schlauer sein und fahre eine neue Taktik. Nun will ich Maik mit guten Aussichten locken und krame in meiner Erinnerung. Maik schaut auf die Uhr, er hat noch zehn Minuten, bis er los muss. Mein Bruder kam mit der Schule auch nicht klar und kriegte nur knapp die Kurve. Danach verpflichtete er sich für zwei Jahre beim Bund. Das war neun Monate länger als der Wehrdienst dauerte, und fast genauso lang wie der Zivildienst vorsah. Wehr- und Zivildienst unterschieden sich nur um einen Monat. Die Verpflichtung als Zeitsoldat bescherte ihm eine bessere Besoldung und jede Menge Lehrgänge für die Offizierslaufbahn. Die großzügigen Lockangebote der Bundeswehr zielten auf eine langfristige Mitarbeit. Falk nahm es pragmatisch. Er verließ die Bundeswehr nach zwei Jahren als Fähnrich, was das Bafög-Amt als abgeschlossene Berufsausbildung einstufte und ihm deshalb den Höchstsatz für sein Studium gewährte.
Nicht einer der Vorzüge von damals ist heute noch aktuell. Die stufenweise Verpflichtung ist vorbei. Wer sich verpflichtet, tut dies für zwölf Jahre. Studieren kann man nur noch mit einem ordentlichen Abitur bei der Bundeswehr, sie bieten eine Menge Studiengänge
an. Aber dass die Wirtschaft sich nach studierten Zeitsoldaten sehnt, die nach zwölf Jahren in die Freiheit drängen, ist eine Legende. Dafür sind viel zu viele im Angebot. Und außerdem: Der Zeitsoldat verpflichtet sich zu Auslandseinsätzen. Da schlagen dann zwei Herzen in meiner Mutterbrust. Natürlich soll mein Kleiner zum Mann reifen, aber muss das unbedingt am Hindukusch sein? Im Zinksarg will ich ihn nicht zurück.
Nach den Osterferien damals verpflichtete sich Maik zu einem anderen Auslandseinsatz. Er bat in Religion um ein Referat und schlug auch gleich das Thema vor, das ich ihm ins Ohr geflüstert hatte: »Die Verschleierung in der islamischen Welt – Burka, Hidschab und Tschador. Warum Korangesetze die Verschleierung der Frauen vorsehen«. Der Lehrer gab seiner Bitte statt, zeigte aber zu meiner großen
Weitere Kostenlose Bücher