Muttersoehnchen
schon um sieben statt um halb acht, und nur die guten Eltern schafften es, pünktlich zu erscheinen. An unserem Gehorsam hätte jeder Kompaniechef seine helle Freude gehabt.
Ein Kontrastprogramm täte Maik bestimmt gut. Seit zwei Minuten ändert sich sein Gesichtsausdruck, er interessiert sich plötzlich für die Welt mit dem eisernen Vorhang und der allgemeinen Wehrpflicht. Das Interesse hat mit seinem Geschichtsleistungskurs zu tun, in dem sie gerade die überstarke Stellung der Reichswehr während der Weimarer Zeit besprechen und er vielleicht was aufschnappen kann, wenn er schon zuhören muss. Die Reichswehr war eine auf nur 100.000 Mann beschränkte Berufsarmee, die sich immer mehr dem Einfluss der Regierung entzog und zu einem Staat im Staate wurde. Die Gründungsväter der Bundeswehr hatten dazugelernt und den Bürger in Uniform geschaffen, erkläre ich ihm, als sei ich Redakteurin bei Y , dem Bundeswehrmagazin.
Wer nicht dienen wollte, hatte einiges zu tun. Maiks Vater ist nie bei der Bundeswehr gewesen und immer noch stolz darauf. Ende der 70er war es noch ein ziemlich schwieriges Unterfangen, dem Stellungsbefehl zu entkommen. Da musste man sich jede Menge Gedanken über Krieg und Frieden, Tod und Teufel gemacht haben. Es bedurfte sehr überzeugender Gründe, den Dienst an der Waffe nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes zu verweigern: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Da reichte es nicht, einen Besinnungsaufsatz zu schreiben, sondern jeder junge Mann musste in einer persönlichen Anhörung Rechenschaft ablegen.
Mit den Argumenten von heute hätte man den Verwaltungsbeamten nicht kommen können: Ich möchte mit Jannick und Luki ein Tonstudio aufbauen, und ich habe Sorge, dass sie sich einen anderen Gitaristen suchen, wenn ich eine Weile nicht da bin. Oder: Ich kann nicht so gut schlafen mit anderen in einem Zimmer. Oder auch: Ich habe gehört, dass man hier kein Gel benutzen darf. Der damalige Kriegsdienstverweigerer musste in politischen Fragen gut aufgestellt sein, um an der Verteidigungspolitik des Staates persönliche Zweifel anmelden zu können. Er musste sehr entschlossen sein, mehr über sein eigenes Gewissen in Erfahrung zu bringen und eloquent genug, es mündlich vorzutragen. Oder er musste nach Berlin ziehen, dessen Bewohner wegen des Vier-Mächte-Status vom Wehrdienst generell befreit waren.
Heute wollen Berliner Eltern lieber von dort wegziehen. Aber auch im gesamten Bundesgebiet überlegten Eltern schon in den 90ern, in welches Stadtviertel ein Umzug in Frage kam, damit ihr kleiner Ichling das beste Gymnasium besuchen konnte. Wir glaubten nicht mehr an gleiche Zutrittschancen für alle, sondern wollten einen vor dem Prekariat geschützten Raum. Wir gingen Sozialhilfeempfängern schon immer aus dem Weg, zumal wir ihnen auch nicht ganz abnahmen, dass sie schuldlos an ihrer Situation waren. Wir fanden unseren Gemüsetürken charmant, und solange er brav hinter seiner Ladentheke blieb, nahmen wir in Kauf, dass er uns noch immer nicht richtig verstand und manchmal Weißkohl statt Wirsing in die Tüte packte.
Die Lehrerschaft reagierte auf diese Wanderungen mit perfektioniertem Hütchenspiel, das da hieß: Verantwortung verschieben. Vorwürfe,
warum der eine zu wenig tat und ein anderer zu viel unterließ, wurden hin und her geschickt und, das war die einzige eiserne Regel überhaupt, nie offen ausgesprochen. In den ersten Jahren ging es von der Schule ins Elternhaus und zurück, später von Schule und Elternhaus zum Schüler. Als es bei uns soweit war, dass wir im Schulterschluss mit den Lehrern in Maiks Richtung schauten, war der schon geistig ausgecheckt, nur noch nicht abgereist: Es waren ihm einfach zu viele Vorwürfe, um sich noch empören zu können.
Beim Hütchenspiel hielt der gemeine Studienrat die besten Trümpfe in der Hand. Er trug in seiner Schultasche geniale Arbeitsverträge, die ihn von jeder Erfolgspflicht befreiten und bislang vor Transparenz schützten. Zwischen Thermoskanne und Brotpapier verkrümelte sich die Antwort auf die Frage: Quis custodiet ipsos custodes? – Wer bewacht die Wächter?
Niemand. Was im Unterricht passierte, wusste keiner so genau. Die Fachkollegen wollten es voneinander nicht wissen, denn dann hätten sie sich ja umgekehrt auch in ihre Karten schauen lassen müssen. Womit flugs klar war, warum in Vertretungsstunden so selten Fachunterricht gemacht wurde. Wir
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