Muttersoehnchen
sich wie irgendein Gast. Auf seine Bandprobe verzichtet er am Nachmittag auch nicht, und so steht abends um halb neun eine ziemlich erschöpfte Gastgeberin im schwarzen Minikleid im immer noch leeren Partyraum.
Überhaupt sieht es so aus, als wäre es nicht mehr ganz so eng zwischen den beiden. Sie streiten nicht offensichtlich, aber Patrick kommt viel seltener als früher. Lysa schweigt sich aus und quält uns mit Launenhaftigkeit. Auch ihr Bruder hält sich am Partytag mit tatkräftiger Hilfe vornehm zurück. Das Vakuum an der Seite seiner Schwester irritiert ihn nicht so sehr, dass er kurzerhand in die Lücke springen würde. Er will gebeten werden, aber darauf kann er lange warten.
Ich mische mich ein und übernehme kurz entschlossen die Aufnahmeleitung. Das führt zu heftigem Gepolter. Meine beiden sind nicht mehr klein, und das lassen sie mich wissen. Rolf findet die Nische, in dem er sich um den Beamer kümmert, der Bilder aus Lysas Leben mit allen ihren Freunden in einer Endlosschleife an die Wand werfen soll.
Die Ansprüche an die Ästhetik der Bildschirmoberfläche haben das Auge geschult und der Bedienkomfort wurde immer wichtiger. Die schlechten Kopien und die unübersichtlichen Arbeitsblätter, die meine Kids in der Schule bekamen, gruben an der Autorität derjenigen,
die sie verteilten. Sogar das Design der Fernsehstudios wirkte auf uns Eltern plötzlich angestrengt und die Moderatoren, als predigten sie vom Berg herunter. Die Damen und Herren litten unter einem Legitimationsdefizit. Sie waren nicht mehr die alleinigen Verkünder exklusiver Informationen, das Internet war längst auf dem Weg zum Leitmedium. Der Mikro-Blog Twitter mauserte sich binnen weniger Jahre von der Weltzentrale der Plattitüden zum Agenturdienst. Prominente, Politiker und Leserreporter füttern uns blitzschnell mit Schnipselbotschaften, in 140 Zeichen wissen wir Bescheid.
Die Bibliotheken mit ihren gemütlichen Öffnungszeiten konnten naturgemäß mit der 24/7-Präsenz des Internet nicht mithalten. Der omnipräsente Zugriff auf unendlich viele Fakten und Nachrichten, auf Klatsch und Tratsch, das Senden und Empfangen hatte uns schneller verändert, als wir es zugeben konnten. Der Meldeton eingehender Mails oder Short Messages konditionierte uns wie einst Iwan Petrowitsch Pawlow seinen Hund. Dessen Speichelsekretion stieg schon beim Anblick der Glocke an, unsere steigt beim akustischen Signal eines Smartphone. Das World Wide Web hat die Information demokratisiert und unsere Individualität zwangsoptimiert. Beides zusammen verschärft die Widersprüche im Alltag.
»Na, wie viele kommen denn nun?« Die Frage lässt Lysas Augen feucht werden und schnürt mir das Herz zusammen. Ich hasse das Internet. Ich hasse unsere grenzenlose Liberalität. Und ich hasse jede Inszenierung des Gesamtkunstwerkes Ich.
2003: DEUTSCHLAND UND DIE WELT
POLITIK
Im Bundestag präsentiert Kanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010, ein Programm zur Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme, gegen das in den folgenden Wochen Hunderttausende Menschen demonstrieren.
KRIEG
Amerikanische Truppen und ihre Verbündeten marschieren in den Irak ein und besetzen das Land. Der Diktator Saddam Hussein wird Monate später in einem primitiven Versteck entdeckt und festgenommen.
GRENZE
Erstmals nach fast 29 Jahren werden auf Zypern Übergänge an der Grenze zwischen dem türkischen Norden und dem griechischen Süden geöffnet.
TERROR
Bei fünf Selbstmordanschlägen kommen in der marokkanischen Hafenstadt Casablanca 43 Menschen ums Leben. Drei überlebende Attentäter und einer ihrer Hintermänner werden später zum Tode verurteilt.
KATASTROPHE
Ein schweres Erdbeben in Algerien fordert mehr als 2.000 Opfer und hinterlässt Zehntausende obdachlos.
FREITOD
Der prominente FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann stirbt bei einem Fallschirmabsprung, nach den Ermittlungen der Polizei war es Selbstmord.
AUTOMOBILE
Im mexikanischen Volkswagenwerk läuft der letzte Käfer vom Band.
ENTFÜHRUNG
Nach sechs Monaten in der Hand von algerischen Rebellen kommen 14 Sahara-Touristen frei, darunter neun Deutsche.
MORD
In einem Stockholmer Kaufhaus wird die schwedische Außenministerin Anna Lindh von einem geistig verwirrten Mann niedergestochen, sie stirbt im Krankenhaus.
JUSTIZ
Der wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze verurteilte letzte DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz wird auf Bewährung aus der Haft entlassen.
URTEIL
Das
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