Muttersoehnchen
Rahmen der vergleichsweise bescheideneren Möglichkeiten, und dass es damals meine Eltern und Lehrer wahnsinnig machte. Die hatten noch die erzwungenen Liebesbekundungen an die Verwandtschaft in Erinnerung, gequälte Weihnachtsfeste mit mühsam
erhaltenem Familienfrieden, all diese mehr oder weniger verlogenen Rituale. Und sie mussten erwachsenen Autoritäten Respekt zollen, auch wenn die ihn nicht verdienten. In ihren Kinder- und Jugendtagen war zwar Aufschwung allerorten, aber die Zeiten waren auch fürchterlich spießig und extrem ungerecht. Es gab ein klares Oben und Unten, an dessen Auflösung unsere Eltern selbst mitgewirkt hatten, damit wir es einmal ehrlicher haben sollten.
Unsere Eltern saßen im Käfer und der musste ihnen reichen zum Glück. Wir sind heute noch stolz, dass wir uns mit dem Golf begnügten, aber in Wirklichkeit wurde der uns schon bald zu eng. Unseren Kindern würden wir am liebsten einen Porsche gönnen. Und könnten dann zuschauen, wie sie ihn an die Wand fahren.
Oder es muss irgendwas mit Patrick sein, schließe ich messerscharf. Er ist ein netter Junge mit einem freundlich-fröhlichen Wesen und höflichen Manieren. Dass er nicht gern zur Schule geht und deshalb mit dürftigen Noten hantiert, hatte uns überrascht. Er wirkt aufgeschlossen und neugierig. Er hat eine sehr schöne Stimme und zupft ganz entzückend die Saiten seiner Gitarre. Der Junge ist ein designierter Frauenversteher vom Typ Schwiegermutters Liebling. Er und unsere Lysa sind ein hübsches Paar. Gepflegt. Gestyled. Gebranded.
Aber es ist auch ein ungleiches Paar. Meine Tochter weiß mehr, kann mehr und ist perfekt organisiert. Von Anfang an machte sie in der Beziehung die Ansagen, und Patrick ließ sich das gefallen. Täglich rief er an, und ihren Antworten entnahm ich seine Frage: »Was spielen wir denn heute?« Lysa wusste es. Sie hatte stets einen Plan und auch gleich schon die passenden Busverbindungen parat. Er widersprach nur ganz selten.
Patrick und Lysa haben vor ihrem 16. Geburtstag zueinander gefunden, kurz bevor meine Tochter ihr Jahr in England verbrachte. Während dieser Zeit zweifelte ich, ob die Liebe trägt, weil sie sich nur so selten sehen konnten, und nach ihrer Rückkehr zweifelte ich, ob sie trägt, weil sie sich so oft sehen konnten. Lysa hielt ihren Freund an, mehr für die Schule zu tun. Und als es um
sein Praktikum ging, sortierte sie die Möglichkeiten und suchte in gemeinsamen Überlegungen mit seiner Mutter die beste raus.
Er wird sich schon wehren, wenn es ihm zuviel wird, dachte ich oft. Lysa versuchte, seinen Ehrgeiz auch über den Schulvormittag hinaus anzutreiben, aber die Erfolge waren mäßig. Ihr zuliebe lernte er nicht mehr für die Schule, aber er tat das, was Männer so tun, wenn die Herzensdame ruft: Er schränkte den Kontakt zu seinen Freunden ein. Als ihr das noch nicht reichte, begann Patrick verhalten zu maulen. Lysa verstand nicht, warum er nicht jede freie Minute mit ihr verbringen wollte. Sie wertete es als mangelnde Zuneigung. Sie liebte ganzheitlich, er hatte zwischendurch zu tun. Und ich staunte, wie betonfest die archaische Sehnsucht nach totaler Verschmelzung im Kopf meiner Tochter sitzt.
In der Schule sind die vielen Kommunikationsmöglichkeiten dank der dritten Mobilfunkgeneration G3 angekommen. Die Schüler kennen alle Funktionen und der Schulleiter musste schon traurige Höhepunkte beim Gebrauch auf dem Schulgelände vermelden. Seine Beobachtungen und Anklagen füllten ein ganzes DIN-A4-Blatt, quer beschrieben in winziger 6-Punkt-Schrift, mit dem er alle zusammen ansprach, die Schüler von der 5. bis zur 13. Klasse und deren Eltern, so, als lohne es nicht, zwischen 10- und 18-Jährigen zu unterscheiden und unsere Rolle davon eigenständig zu betrachten. Seine Aufzählung las sich heftig: SMS und MMS während des Unterrichts, Runterladen und Weiterleiten von Pornobildern und Gewaltszenen, dazu noch der Austausch von Mathelösungen. Zu lautes Musikhören über Kopfhörer schadet wenigstens nur den eigenen Ohren. Aber erpresserische Fotos und das so genannte Cybermobbing , wenn per Kurznachricht ein Gerücht verbreitet wird, gäben aktuell besonderen Anlass zur Sorge.
Anlass für den Rundumschlag waren Sexbilder auf dem Handy eines Zwölfjährigen, die von dessen Mutter entdeckt wurden. Die schockierte Frau konfrontierte den Herrn Direktor mit der vorwurfsvollen Frage: »Von wem hat er das bekommen?« Die Vorstellung,
das eigene Kind könnte selbst eine Quelle
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