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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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stand, das, wie Frau Bentele sagte, der Großvater ihres Mannes im Siebzigerkrieg erbeutet hatte. Immer wenn ihr Mann das gesagt habe, fügte er noch dazu: in Frankreich, genauer gesagt: in Metz. Frau Bentele sagte, Josefine habe leider Glück gehabt. Bis letzten Samstag sei das Hugos Zimmer gewesen, zweiundzwanzig, bei der ZF und dann, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, mit seinem Motorrad in die Argen, tot. Und zeigte auf ein großes, gerahmtes Foto, das Hugo in der ledernen Motorradkluft zeigte, den Helm unterm rechten Arm. Frau Bentele starrte das Bild so an, dass nichts anderes übrigblieb, als das Bild auch anzustarren. Tatsächlich merkte Josefine erst jetzt, dass sie es versäumt hatte, das, was da passiert war, zu erleben. Die Verlobte von Hugo werde das Bild holen, so lange könne es doch da hängen. Josefine nickte heftig. Sooft sie jetzt das Bild sah, ansah, daran vorbeisah, dachte sie: zweiundzwanzig, mit dem Motorrad nachts in die Argen.
    An Weihnachten fuhr sie mit dem Omnibus hinüber nach Gellnau. Sie fand die Mutter in der unheizbaren Dachbodenkammer als ein wimmerndes Bündel. Sie wickelte die Mutter in zwei Decken. Gegen den Gestank war nichts zu machen. Als sie sich bei ihrem Bruder beklagte, sagte der: Du kannst sie mitnehmen, die alte Loos. Loos ist das gegendgemäße Wort für Mutterschwein. Sie nahm sie mit nach Tettnang.
    Der große, grobe Bruder redete daher, wie früher die Mutter auch geredet hatte. Der Vater nie. Kein Satz des Vaters hatte sie je verletzt. Aber oft genug Sätze der Mutter.
    Jetzt sollte die Mutter in Finis Bett schlafen, sie selber bettete sich auf das harte Ledersofa aus Frankreich, genauer gesagt: aus Metz. Peinlich war ihr, dass sie die Lehrmeisterin fragen musste, ob die Mutter für kurze Zeit bei ihr im Zimmer bleiben dürfe. Frau Bentele könne ihr dafür fünf Mark vom Lohn abziehen. Frau Bentele hatte sie gern, das hatte Fini gemerkt. Einmal sagte sie, so eine Tochter hätte sie sich gewünscht. Wenn eine Kundin gelegentlich nach ihrer Tochter fragte, rannte Frau Bentele hinaus, kam dann zurück und tat, als sei nichts gewesen. Finis Arbeit lobte sie so, dass es Fini wegen der anderen zwei Mädchen oft unangenehm war. Die waren ja schon im zweiten und dritten Lehrjahr und mussten sich vorhalten lassen, dass Fini schon besser zuschneide als sie.
    Zu Anproben, die in dem erstickend feierlichen Wohnzimmer stattfanden, holte sie immer Fini herüber, nicht die zwei anderen. Sogar zu Vorbesprechungen mit anspruchsvollen Kundinnen wurde Fini gerufen, seit sie für den Ausschnitt des türkisfarbenen Abendkleids der Frau Baronin – das war die anspruchsvollste Kundin überhaupt – einen Hohlsaum vorgeschlagen und den auch selber unübertrefflich gut und schön gemacht hatte. Unsere Hohlsaum-Künstlerin, so wurde sie Kundinnen, die sie noch nicht kannten, vorgestellt.
    Die Schneiderei war von Frau Benteles Mann gegründet worden. Das Bild des Schneidermeisters Bentele hing in jedem Raum. Von jedem Bild schaute er jedem, der ihn ansah, mit leicht gesenktem Kopf höchst kritisch entgegen. Unter der Nase hing dieses berühmte Bärtchen. Benteles Haus lag an einem steil eingeschnittenen Bachbett. Das Anwesen reichte bis zum Bach hinab, und der Bach floss noch eine Zeit lang durch die Bentele’sche Wiese. Herr Bentele hatte Ziegen gehabt. In dem Stall standen jetzt die Fahrräder. Auch was der verunglückte Hugo für sein Motorrad gebraucht hatte, lag und hing noch herum.
    Garten umgraben, Heu machen, Kirschen pflücken, alles, was ums Haus herum zu tun war, war den Lehrlingen aufgetragen. Da die Lehrherrin Zimmer vermietete, waren auch die Zimmerherren aufgefordert, sich in dieser kleinen Landwirtschaft nützlich zu machen. Einmal ist ein Zimmerherr Fini, als sie Kirschen pflückte, in den Kirschbaum nachgeklettert. Einmal hat er sie, als sie von der Berufsschule heimging, ins Café eingeladen und hat auf sie, die kein Wort herausbrachte, eingeredet. Er war doch Studienrat, und sie hielt sich, obwohl sie in Gellnau die Musterschülerin ihres Lehrers gewesen war, für eine dumme Gans. So nannte sie sich auch selber. Allerdings in der Hoffnung, es werde ihr widersprochen. Jedenfalls war es fast schon dunkel, als sie mit dem Studienrat zum Haus kam. Der Studienrat sagte, sie könnten doch noch an den Bach hinunter- und am Bach entlanggehen. Er höre so gern den Bach rauschen, sagte er. Bis zu diesem Augenblick hatte sie den Bach nicht gehört. Jetzt hörte sie ihn auch.

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