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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Sie sagte aber, dass sie, was sie da glucksen höre, nicht rauschen nennen würde. Sondern, fragte der Studienrat. Glucksen, sagte sie. Der Studienrat war begeistert. Bitte, sagte sie, ich bin über der Argen drüben aufgewachsen, in Gellnau, die Argen, die rauscht. Der Studienrat blieb stehen, stellte sich vor sie hin, umfasste sie, drückte sie an sich hin und zitterte. Dann stöhnte er. Fini erschrak. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, weil sie nicht wusste, was dem Studienrat fehlte. Der war mindestens doppelt so alt wie sie. Sie konnte weder etwas sagen, noch etwas tun. Sie musste warten, bis es dem Studienrat wieder besserging. Dann aber rasch zurück. Die Mutter jammerte, schimpfte, prophezeite ihr eine grauenhafte Zukunft, wenn sie so weitermache.
    Dass Männer, auch viel jüngere, sogar gleichalterige, wenn sie mit ihr in Berührung kamen, zu zittern begannen, wurde für Fini zu einer Erfahrung. Wenn sie mit ihren Freundinnen am Wochenende in den Bären zum Tanzen ging, kam es vor, dass der Bub, mit dem sie tanzte, bei ruhigeren Rhythmen anfing zu zittern. Sie wagte nicht, diese Erfahrung mit einer Freundin zu besprechen, weil sie fürchtete, sie werde dann für eine Angeberin gehalten. Ihr war dieses Zittern eigentlich sympathisch. Sie spürte das als ihre Wirkung.
    Fini hatte sich ein kleines Radio gekauft. Auf dem Schlugen-Hof hatte es so etwas nicht gegeben. Die Mutter schimpfte auf sie ein, weil sie ihre Zeit verschwende, aber sie verehrte den Apparat, sie drehte an den Knöpfen und wurde gefangen genommen von dieser Radiowelt, wie sie noch von nichts anderem gefangen genommen worden war. Die Musikschmeicheleien, die Schlagzeugmassagen, diese sie einfach mitschleifenden Tanzorchester! Wo hatte sie denn gelebt! Gellnau, Pfarrer, Lehrer, dumme Gans! Und geriet in eine Sendung mit Stimmen, wie sie noch keine gehört hatte. Weder der Pfarrer in der Gellnauer Kirche noch der Lehrer, kein Mensch hatte je so gesprochen, zu ihr gesprochen. Dass diese Stimmen zu ihr sprachen, war gar nicht zu bezweifeln. Als die Sendung zu Ende war, wurde gesagt, das sei von Johann Wolfgang von Goethe die Iphigenie gewesen. Am nächsten Tag rannte sie in der Mittagspause in die Stadt, fand die Stadtbücherei, fragte nach der Iphigenie von Goethe und erfuhr, die Stadtbücherei habe Goethes Werke nur in einer alten Ausgabe, die zu kostbar sei, um ausgeliehen zu werden. Aber Josefine Schlugen durfte von da an jeden Sonntag nach der Kirche zwei Stunden in die Bücherei kommen und am Schreibtisch der Leiterin auf mitgebrachtes Papier die Iphigenie abschreiben. Als sich ihre Lehrzeit dem Ende näherte, hatte sie die Iphigenie in schöner Reinschrift auf ihrem Papier. Dass Fini sich dann im Zimmer abends die Iphigenie halblaut vorlas, nicht nur einmal, sondern unzählige Male, brachte ihre Mutter allmählich zur Verzweiflung.
    Die Mutter sah Fini in höchster Gefahr. Fini sollte die Meisterprüfung ablegen und dann eine eigene Schneiderei gründen, weil Schlugens nicht zum Angestelltsein auf die Welt kommen. Und jetzt das! Statt zu nähen, zu stricken, zu sticken, diese Leserei! Die Mutter bereitete eine Gegenaktion vor. Gegen Lesen hilft nur Heirat. Sie durchsuchte die Zeitung
Heim und Welt
nach Heiratsannoncen und legte Fini dann die Kandidaten vor, die sie für zukunftsträchtig hielt. Für Fini war’s ein Spiel, an dem sie sich gern beteiligte. Ihre Ablehnungen waren immer Ablehnungen des Wortlauts. So, wie es da stand, wollte sie nicht angesprochen oder gar verlockt werden. Sie hatte die Iphigenie im Kopf: Heraus in eure Schatten … und so weiter. Aber dann stieß sie selber auf einen Text, der sie sofort anzog. Da stand:
    Mir ist schon viel passiert, aber noch nicht das Richtige. Wenn Du mich verstehst, schreibst Du mir.
    Der Mutter fehlte in dieser Annonce das Wichtigste: Alter, Beruf, Ernsthaftigkeit!
    Fini schrieb in dem Ton zurück, der ihr aus dieser Annonce entgegenkam. Sie wollte diesen Ton übertreffen.
    Mir ist noch nichts passiert. Ich erwarte alles.
    Es antwortete ein Hugo Schwillk. Er setzte diesen direkten Ton fort, Fini schrieb genau so direkt zurück. Und dass der auch noch Hugo hieß, wirkte wie ein Blitzschlag, der ihr ganzes Leben erleuchtete, als wäre es eine Landschaft. Sie kam sich geleitet vor. Ihr konnte nichts passieren. Sobald sie im Freien war, pfiff sie, sang sie. Sie jubilierte.
    Du bist die Richtige, schrieb der zurück.
    Und wenn ich eine dumme Gans bin, schrieb sie.
    Eine dumme Gans weiß

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