Muttersohn
Wahlspruch. Nur Einserschüler. Und sie war jetzt die Kollegin dieser fabelhaften Schneiderinnen und Schneider. Lauter Geheimräte. Etwas anderes fiel Fini zu diesen Atelieristen nicht ein. Geheimrätinnen und Geheimräte. Und ein Prinz. Hieß Arthur. Tonino Konetzni wusste alles, konnte alles, machte alles, verstand alles. Noch nie hatte sie solche Hände gesehen wie die von Tonino. Da wusste sie, sie hatte bis jetzt nur Pratzen gesehen. Ausgenommen die Hände ihres Vaters. Und Toninos Haare, Haare in Wellen bis auf die Schultern. Und wie das zusammenpasste, die langen herunterfließenden Haare und diese langen Finger! Das waren Hände wie extra Lebewesen. Die waren einfach intelligent. Deshalb konnten sie auch alles, was man mit Nadeln und Scheren überhaupt können konnte.
Dass Tonino die männlichen Kollegen den weiblichen vorzog, war unübersehbar. Prinz Arthur, so jung wie Fini, war sein Liebling. Freimütig gestand er vor allen anderen, er werde Arthur lieben, auch wenn der es nie schaffen werde, ein Knopfloch richtig zu säumen. Was ist schon ein Knopfloch, rief er dann und lachte auf eine Art, dass Fini lieber weggehört hätte. Ihr braucht da gar nicht so schamlos zu grinsen, rief er dann seinen Angestellten zu, ich bin Arthurs warmer Bruder, er ist es, an dem ich mein Wohlgefallen habe, mitten in dieser Welt der kalten Bauern, gell, mei Arthürle.
Arthur, der sonst sehr blass war, wurde dann immer ganz rot. Und er schaute Fini so an, dass Fini sofort wegschauen musste. Sie hatte das Gefühl, der zittere jetzt. Sie vermied es, mit Arthur zusammen aus dem Haus zu gehen. Wegen Tonino. Und ihretwegen.
Fini fragte Tonino, wo die Stadtbücherei sei. Das wusste er, er hatte früher selber dort Bücher entliehen. Fini verbrachte ihre freie Zeit jetzt im Lesesaal und nahm mit, so viel sie mitnehmen durfte, und las und las und las.
Zuerst einmal nur Hesse. Dann, auf Rat der Bibliothekarin, Rilke. Gedichte! Die schrieb sie abendelang ab. Frau Lechleitner, die sparen musste, sagte, das Licht nicht die ganze Nacht brennen zu lassen, wäre bei den heutigen Strompreisen schon ratsam. Herr Lechleitner baute im Vorgärtchen selber Tabak an und bearbeitete den, bis er daraus Zigaretten drehen konnte. In der Wohnung herrschte der Geruch der von Herrn Lechleitner gedrehten und gerauchten Zigaretten. Ihr kleines Radio hörte Fini unter der Bettdecke. Sie merkte allmählich, dass alles zusammengehörte, die Bücher, das Radio, Tonino, Arthur, Herr und Frau Lechleitner und die irrsinnig interessanten Menschen jeden Morgen in der Straßenbahn. Das war überhaupt ein Märchen, die Straßenbahn. Ihr Geklingel, wenn ihr etwas in den Weg kam, ihr Quietschen beim Bremsen, ihr Gekreische in den Kurven. Das hörte Fini am liebsten, dieses Gekreische in den Kurven. Als kreischte sie vor lauter Lust und Freude; aber einen Schmerz hörte sie auch in dem Kreischen. Und um sie herum saßen und standen die Leute, die auch zuhörten, wie es der Straßenbahn ging auf ihrer Fahrt von Stuttgart-Wangen in die Stadt hinein. Die saßen doch, als lauschten sie einem Konzert. Und das andauernde Aussteigen und Zusteigen der Leute war auch fabelhaft. Und wie verschieden von einander die alle waren. So viele Menschen und jeder ganz anders. Das war doch unglaublich. Verglichen mit den Leuten hier hatten in Gellnau alle einander gleichgesehen. Und in Tettnang auch. Manchmal merkte sie, dass es einem oder einer Angeschauten nicht recht war, so gründlich angeschaut zu werden, dann musste sie rasch wegschauen.
Aber Tonino! Seit ihr Vater sie hatte an sein Bett kommen lassen, weil er in ihrer Gegenwart sterben wollte, war sie nicht mehr so erschrocken wie jetzt, als Tonino alle bat, nicht mehr weiterzuarbeiten, jetzt sofort ein kleines Fest beginnen zu lassen, eine Finisage. Seine Finisage nämlich. Weil sie von Anfang an die war, die, als die dumme Gans, immer, wenn sie etwas nicht wusste, ungeniert fragte, fragte sie auch jetzt, was Finisage heiße.
Tonino küsste sie auf die Wange und sagte ihr, was zu sagen war, ganz mild, liebevoll: wie zu einem Kind. Er sei unheilbar. Angesteckt. Im Urlaub. In Tanger. Eine afrikanische Krankheit. Weil Gott gegen Schwule ist. Hat ja recht.
Tonino hatte schon alles für ein Abschiedsfest vorbereitet. Getränke, Platten voller Delikatessen. Aber niemand wollte zugreifen. Auch trinken wollte niemand. Alle waren unter Schock. Stumm saßen alle um Tonino herum. Fini hätte am liebsten seine Hand genommen, aber sie
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