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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Mütze tragen. Ohnehin, der Zug aus Köln würde auf Gleis 15 einfahren, sie stünde am Gleisanfang, würde alle an sich vorbeigehen lassen, ihn dann sehen, ihn auf sich zugehen lassen, aber ganz zuletzt würde sie es nicht mehr aushalten, sie würde wie von einer Feder geschnellt die letzten drei Meter auf ihn zufliegen, dann, einen halben Meter vor ihm, stehen bleiben … der Rest sei, schrieb sie, unvorhersehbar, weil unvorstellbar.
    Er kam tatsächlich als Letzter. Sie waren inzwischen allein auf dem Bahnsteig. Irgendwie kamen sie einander näher, hatten es beide offenbar schwerer als ihre Briefe. Nichts von dieser andauernd überströmen wollenden Liebeshast half ihnen jetzt. Der sieht ja wahnsinnig männlich aus, dachte sie. Dieses breit ausschwingende Kinn. Dann wich das Gesicht zurück, erst bei den Backenknochen sprang es wieder heraus. Also Mulden vom breiten Kinn bis zu den die Augenhöhlen ermöglichenden Backenknochen. Tief drin die Augen. Auch der Mund breit, aber sehr fest. Die schwarze Mütze nahm er ab. Eine Baseballmütze. Das war ein Sichöffnen. Allerdings wurde dadurch die fingerbreite, ein wenig wulstige Narbe sichtbar: aus den kurzen, straffen, schwarzen Haaren heraus schräg über die Stirn herab bis auf die Nasenwurzel. Fini erschrak. Aber sie wollte jetzt nicht erschrecken. War an den Augen auch etwas? Er hatte die Mütze wieder aufgesetzt. Auf jeden Fall war der eins achtundachtzig groß. Dafür hatte sie durch das Anzugprobieren einen Blick. Sich selber fühlte sie als ein halbblondes Nichts. Händedruck, die Andeutung einer Umarmung, wie sie auf Bahnsteigen üblich sind, dann seine beiden Hände an ihren Oberarmen, ein angenehm schmerzhaft fester Zugriff, dann sagte er: Josefine, und imitierte dabei die gegendgemäße Betonung. Sie sagte: Hugo, sagte es so leichthin, als habe sie es schon hundertmal gesagt. Dann musste sie aber gleich dazusagen: Ach, Hugo.
    Ja, sagte er, so ein Bahnsteig ist ja ein routinierter Pate für jede Art von Mitteilung, also sage ich gleich: Hugo, das war einmal. Der blöde Hugo, den er von seinem dürftigen Erzeuger gegen den Willen seiner orchideenhaft kostbaren Mutter draufgepappt bekam, ist abgeschafft. Hugo, das war Köln. Stuttgart, das ist Arno. Nimm’s einfach mal an.
    Weil sie erschrak, sagte sie unwillkürlich einen Satz aus seiner Annonce: Mir ist schon viel passiert, aber noch nicht das Richtige.
    Nebensachen unerwünscht, sagte er mit einem Finisatz.
    Und sie mit seinem Satz: Die Hauptsache, das hat sich jetzt herausgestellt, sind wir, du und ich.
    Wir können uns auswendig, sagte er.
    Schon lange, sagte sie.
    Im Englischen sei das viel schöner, sagte er, da heiße auswendig
by heart
.
    Fini, die sonst immer fragte, wenn sie etwas nicht verstand, wagte diesmal nicht zu fragen. Sie konnte nur noch einmal Ach, Hugo sagen.
    Und er, fast verlegen: Nicht mehr Hugo, wenn’s geht.
    Sie wusste jetzt nicht weiter. Er schon. Ja, das sei ein Beispiel dafür, dass das wunderbare Briefgestöber, das von ihnen für einander entfacht worden sei, fürs Kennenlernen grad mal ein Vorspiel gewesen sein dürfte.
    Fini erschrak noch einmal. Wusste aber nicht, warum. Erst viel später fiel ihr dieser Satz öfter ein. Die wunderbaren Briefe, die für sie alles waren, grad mal ein Vorspiel! Briefgestöber! Aber jetzt ging es beruhigend weiter. Wir wollen unseren Paten Bahnsteig nicht überfordern. Komm!
    Fini hatte eine erschwingliche Zweizimmerwohnung gemietet, in der Rotebühlstraße. Auf dem Trödelmarkt hatte sie märchenhafte Stücke gefunden. Sie hatte alles hergerichtet zu einem innigen Empfang. Sie wusste plötzlich, was schön war, was noch schöner und was am schönsten war. Sie konnte nichts falsch machen. Sie war geleitet. Von Liebe. Dreizehn Stufen führten in der Rotebühlstraße vom Trottoir hinauf zur Haustür. Sie ging voraus. Er hatte zwei große Koffer, aber er ließ sich nicht helfen. Als er auf der obersten Stufe angekommen war, sagte er: Dreizehn Stufen. Sie nickte wichtigtuerisch. Ja, dreizehn, toll, dass du das gleich bemerkt hast. Sie wollte sagen: Das bringt Glück. Dachte aber rechtzeitig: Dumme Gans, der hat Abitur!
    Sobald sie in ihrer Wohnung waren und vor einander standen, legte er die Hände auf ihre Schultern, sie sah hinauf zu ihm. So weit war es auch nicht. Von eins siebenundsiebzig bis eins achtundachtzig.
    Du bist eins achtundachtzig, sagte sie.
    Eins neunundachtzig, sagte er.
    Du hast einen wahnsinnigen Bartwuchs, sagte sie, ganz

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