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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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wenn das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Dass das rechtlich zulässig sei, könne keinem begründeten Zweifel unterliegen, da es sich um eine medizinisch indizierte Therapie handle, für die das Gleiche gilt wie für sonstige medizinisch begründete Behandlungen akuter oder chronischer physischer Erkrankungen. Also Eile, Eile, Eile, weil beim Alter dieses Patienten bestehende Heilungschancen durch Verzögerung des Behandlungsbeginns ungünstig beeinflusst werden. Ob ein für eine erfolgreiche Psychotherapie erforderlicher echter Heilungswille seitens des Patienten besteht, muss durch psychiatrische Stellungnahmen geklärt werden. Zwei Gerichtssachverständige, Dr. Klever und Dr. Ahlheim, bescheinigen dem Patienten ehrlichen Behandlungswillen. Herr Professor Dr. Undeutsch, aus Köln: Kein Zweifel, dass die Erfolgsaussichten sehr günstig sind. Alle drängen, Zeitdruck wegen des fortgeschrittenen Lebensalters. Aber dann: Laut Anweisung des Staatsanwalts darf in der Unterbringungsklinik keinerlei Therapie erfolgen, weil Unterbringung in einer Nervenklinik nur Unterbringung sei, nicht aber Behandlung und Heilung. Die Aufgabe der Strafjustiz bestehe beim Homosexuellen ausschließlich im Strafen. Es kommt zum Streit. Strafrechtler, Kriminologen, Staatsrechtler, Psychiater, Sexualforscher, Psychologen, Soziologen, Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftler, evangelische, römisch-katholische, jüdische Theologen, Bundestagsabgeordnete, Publizisten und Schriftsteller unterschreiben für die Heilung des Homosexuellen! Wer die mögliche Heilung verhindert oder fahrlässig verzögert, macht sich zumindest moralisch schuldig. Eine Gesellschaft, die sich ein Recht auf Strafe und Maßnahmen zur Sicherung zuspricht, hat vorrangig die Pflicht zur Heilung des Homosexuellen. Das bezeugen Leute mit Namen, und die hab’ ich by heart: Adorno, Böckenförde, Born, Dahrendorf, Giese, König, von Weizsäcker, Spaemann, Flechtheim, Eberhard, Fetscher, Thielicke, Bultmann, Niemöller, Lilje, Gollwitzer, Maihofer, Nell-Breuning, Rahner, Fleckenstein, Schoeps, Mostar, Krämer-Badoni, Jahn, Jens, Johnson, Koeppen. Die haben mich heilen wollen!
    Und Punkt 9 des Schriftsatzes an den Staatsanwalt: Auf den Patienten wartet eine liebende junge Frau, die mit ihm einen Anfang wagen will.
    Das, liebe Fini, haben sie aus deinen Briefen gelesen. Du bist eine Schriftstellerin. Jetzt, lebe mit deinen Wirkungen!
    In Fini blitzte alles durcheinander, was sie je gehört oder gelesen hatte. Kirchen, Paläste, Jahrhunderte, Landkarten, Flut- und Brandkatastrophen, Kriege und Heilige Abende, Pilgerfahrten und Predigten und Gesänge, Tonino und nochmal Tonino und Eis, Schnee und Gletscher, Wüste, das Meer im Aufruhr, die Sonntagsvormittagsstille in Gellnau, alle Haustüren offen, aus allen Haustüren kleine Geräusche und Gerüche, die man kennt …
    Arno sagte nichts mehr. Aber er stand auf, stellte sich ans Fenster, sah hinunter auf die Rotebühlstraße, es war dämmrig geworden. Fini stellte sich neben ihn, sah auch auf die Straße hinunter und sagte: Die Autos fahren vorbei, als wollten sie nicht stören.
    Ich bin froh, dass du so begabt bist, sagte er dann. Er habe übrigens, als er versucht habe, ihr in ihrem mitreißenden Briefton zu antworten, nicht gelogen. Ihm habe sie immer gefehlt. Rein sprachlich. Mehr ausdrücken, als man sagen kann. Das sei immer sein Bedürfnis gewesen. In ihren Briefen sei das immer passiert. Sie hat immer mehr ausgedrückt, als sie sagen konnte. Das habe ihn angesteckt. Und jetzt, sagte er, Punkt 9 des Gutachtens: eine liebende junge Frau, die mit ihm den Anfang wagen will. – Willst du?
    Wenn du willst, sagte sie.
    Er wolle, sagte er, und wie! Und er traue sich zu, ihr begreiflich zu machen, dass es eine einzige Kitschnummer sei, Beziehungen zwischen Männern und Frauen auf das Geschlechtliche zu spezialisieren. Hör dir noch diese Arzt-Prosa an. Nennt sich Untersuchungsergebnis. Vielleicht sagt dir das was, sagte er, blätterte schnell, hatte gleich die gesuchte Seite und las:
    Neurologisch-psychiatrische Untersuchung des Beschuldigten.
    Befund: 84 kg. Länge: 189 cm. Haut und sichtbare Schleimhäute sind ausreichend durchblutet. Der Körperbau ist athletisch-dysplastisch-hochwüchsig mit leptosomen Stigmen. Die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sind bis auf eine fehlende Brustbehaarung und eine feminine Brustwarzenbildung regelrecht.
    Ja? Feminine Brustwarzenbildung! Können wir ja mal

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