Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
traute sich nicht.
    Geht und kommt nicht wieder, sagte Tonino irgendwann. Er werde sich in seine Hütte auf der Alb zurückziehen, sagte er, und mit den Mäusen Schach spielen. Er gab jedem die Hand, sagte jedem noch einen Satz. Zu Arthur sagte er: Du hast Glück gehabt. Zu Fini sagte er: Du wirst es schaffen. Als sie in ihrem Zimmer war, fiel ihr der Satz ihres Vaters ein: Du wirst es schaffen. Wie sollte sie sich da nicht geleitet fühlen! Sterbende stimmten überein, ihr das zu sagen. Sie sagen ihr das, was sie selber weiß. Wenn sie das Südfunk-Tanzorchester unter Erwin Lehn hört oder Frank Sinatra, oder wenn sie Hesse liest und Rilke liest! Wenn sie die Rilke-Gedichte abschreibt, spricht sie die Zeilen mit und hat das Gefühl, sie sei es, die da dichte:
     
     Du bist nicht näher an Gott als wir;
    wir sind ihm alle weit.
    Aber wunderbar sind dir
    die Hände benedeit.
    So reifen sie bei keiner Frau,
    so schimmernd aus dem Saum;
    ich bin der Tag, ich bin der Tau,
    du aber bist der Baum.
     
    Worte des Engels. Die waren an sie gerichtet. Sie war geleitet. Von Anfang an. Ihr sind die Hände benedeit. Warum sie so bei keiner Frau reifen, verstand sie nicht, und verstand es doch, weiter innen in ihr spürte sie ein Verständnis, das sie mit keinem Gedanken erreichte, aber spürte: Du bist ausgezeichnet! Das sagte ihr das Gedicht. Sie spürte es: Du bist ausgezeichnet, weil du das Gedicht verstehst. Das ist überhaupt Ausgezeichnetsein: Verstehen.
    Sie hoffte, dass jeder Mensch sich ausgezeichnet vorkomme. Auch wenn sie eine dumme Gans war, sie spürte in sich eine Umarmungskraft, eine Aufnahmebereitschaft, einen Hingabemut, ihr konnte doch, obwohl sie eine dumme Gans war, nichts und niemand widerstehen.
     
    Tu autem, sagte Percy noch, und erklärte, dass das im Kloster immer das Gebet beende. Eine Anrufung. Der Herr möge sich derer, die zu ihm gebetet haben, erbarmen. Und ging so hinaus, dass er nicht wahrnehmen musste, wie Ewald reagierte.

4.
    Ewald lag wieder ohne Schuhe. Percy nahm’s als eine Art Gruß. Er setzte sich und sagte: Nur dass du Bescheid weißt. Die Briefe an Hugo Schwillk waren längst keine kurzen Fragebotschaften mehr. Seine Briefe nahmen zu an unbeherrschbarer Wörterlust. Ihre Briefe umarmten einander. Allerdings ohne einander je zu berühren. Es war eine Membran zwischen ihnen, die beide respektierten. Aber auf beiden Seiten dieser Scheu- und Schammembran tobten die Gefühle und wurden immer großsprecherischer und doch anspruchsgenauer.
    Dann machte sie einen Fehler. Wir könnten auch einmal telefonieren!
    Aber er: Schreiben ist schöner als telefonieren!
    Sie sah’s ein. Aber so schön Schreiben und Lesen ist, gibt’s ihn überhaupt? Man hört so viel von Gespenstern. Warum kommt er nicht einfach?
    Er kommt doch. Sobald sie eine Unterbringung hat, ist er da. Aber bis dahin braucht er täglich einen Brief. Ihre Briefe sind für seine Seele Sauerstoff.
    Für sie sind seine Briefe jedes Mal ein Sturm. Sie ist, wenn sie wieder einen Brief von ihm gelesen hat, richtig zerzaust. An Leib und Seele. Seit sie seine Briefe liest, begreift sie die ganze Welt. Und zwar, ohne hinzuschauen, ohne daran zu denken. Sie hat ein Weltgefühl. Sie spürt sich. Ganz und gar. In der Welt. Es ist ein Lichterlebnis. Seine Briefe sind hell. Reines Licht. Und kein bisschen blendend.
    Sie hatte in der Gewandmeisterei des Theaters eine Anstellung auf Probe bekommen. Das war ein weiterer Beweis dafür, dass sie geleitet war. Im Theater! Wo wollte sie denn hin, wenn nicht zum Theater! Sie hatte längst ein Abonnement und saß abends weit hinten und hörte mehr als jeder andere. Die Schauspieler spielten doch nur für sie. Horváth und Schiller. Das wurden ihre Theaterdichter. Die Horváth-Frauen sprachen alle ihren Text. Ihr ging es nicht so wie den Horváth-Frauen, sie war geleitet, aber sie kannte die Angst, dass es einem so gehen könnte wie diesen Frauen. Dann las sie auch noch
November
von einem Dichter namens Flaubert. Den hatte ihr die Bibliothekarin in der Stadtbücherei empfohlen. Zur Hesse-Entwöhnung sagte sie. Obwohl Flaubert nichts schön sein lassen konnte, war bei ihm alles schöner als bei jedem anderen, den sie gelesen hatte.
    Den Fehler, Hugo nach einer Fotografie zu fragen, vermied sie. Wie alt sie waren, wussten sie. Fini hatte mitgeteilt, sie werde einen brandroten Schal umhaben. Es war ja inzwischen Oktober geworden. Er hatte geantwortet, dann werde er einen schwarzen Schal und eine schwarze

Weitere Kostenlose Bücher