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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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vergleichen mit einander.
    Fini sah hinauf zu ihm und tat, als nicke sie.
     
    Als sie beide weit genug von einander im Bett lagen, das ein ausgefahrenes Couchteil war, als sie merkte und hörte, dass Arno schon schlief, sagte sie sich in Gedanken ihren Thoas auf. Der war ihr jetzt näher als Iphigenie.
    Man spricht vergebens viel, um zu versagen;
    Der andre hört von allem nur das Nein.
     
    Arno wurde gleich angestellt in einer großen Allianz-Agentur, sie bestand ihre Probezeit in der Gewandmeisterei, sie heirateten. Fini hoffte. Sie wusste nicht, auf was.
    Am Samstag und am Sonntag fuhr man nicht aufs Land oder sonst wohin, Arno las. Er las auch jeden Abend. Er half ihr in der Küche und überhaupt in der Wohnung. Er kaufte auch ein. Er war der höflichste Mensch überhaupt. Er kam jedem Wunsch, den sie haben konnte, zuvor. Nur: kein Kuss. Im Bett: auch nichts. Fini tastete sich durch ihre Verwirrungen durch. Sie war eben eine dumme Gans. Typisch Gellnau, Männer und Frauen auf das Geschlechtliche zu spezialisieren. Kitschnummer!
    Manchmal kam Arno abends spät heim. Manchmal blieb er die ganze Nacht weg. Noch vor Weihnachten wurde ihr gekündigt. Sie war zu oft beobachtet worden, wie sie saß, die Arbeit, die sie tun sollte, in ihren Händen, aber die Hände rührten sich nicht. Sie saß und sah vor sich hin. Das war alles, was sie noch vermochte: vor sich hin sehen.
    Im Diakonissenkrankenhaus wurde eine Wäschebeschließerin gesucht. Sie bewarb sich, wurde angenommen. Einmal begegnete ihr ein Pfleger, folgte ihr in den Keller, sie standen vor einander, berührten einander nicht, aber er sah sie an, dass sie spürte: So war sie noch nicht angesehen worden. Sie las an seinem Schildchen, dass er Sergej hieß. Er sagte, er sei Russe. Und Jude sei er. Er gab ihr dann doch noch die Hand. Er zitterte. Endlich, dachte sie. Arno hatte nicht ein einziges Mal gezittert. Sie rannte weg, ließ Sergej stehen; käme jemand und sähe sie so, wären sie beide sofort entlassen.
    Auf der Heimfahrt fiel ihr ein, dass sie als Mädchen, immer wenn eine Sternschnuppe fiel, gedacht hatte, sie wolle später einmal einfach lieben, nichts als lieben, egal, ob sie zurückgeliebt werde oder nicht. Sie wird bei Arno bleiben. Ihn lieben. Bis zum Tod. Sie wird hinauswachsen über die Kitschnummer. Es überlief sie ein Kälteschauer, als sie das dachte, obwohl es in der überfüllten Straßenbahn ziemlich heiß war.
     
    Weil dieser Arno Schmidt sofort eine unüberschätzbare Rolle spielte in dieser Beziehung, soll jetzt auch der andere Unüberschätzbare wenigstens genannt werden. In der Form der Sternschnuppe. Das entspricht seinem Erscheinen und Verschwinden am ehesten. Ewald Kainz heißt er. Hieß er. Erschienen am 11. Januar 1973 am nördlichen Himmel, unter ihm, nämlich in Stuttgart, auf den Stufen des Neuen Schlosses. Dahin hat die Demonstration geführt, hat er sie geführt. Und hat dann zu denen, die eine Stufe unter ihm standen, gesprochen. Hat sein Polit-Schicksal geschildert als beispielhaft für diese unvollkommene Demokratie, die sich mit lauter Verboten dagegen sträubte, vollkommener zu werden. Eisige Temperatur, glühende Rede. Und weil er, was er sagte, belegen wollte, musste er aus der Jackentasche Papiere ziehen, also störte das Mikro. Das war ihr Augenblick. Fini, damals bei jeder dem Fortschritt dienenden Demonstration glühend dabei, griff zu, hielt das Mikro, dass er seine Beweisblätter hervorholen konnte, und ließ auch, als er die Papiere hatte und aus ihnen zitierte, das Mikro nicht aus ihrer von selbstgestrickten Fingerhandschuhen halbwegs warmen Hand. Und er sprach hinein in das von ihr ihm hingehaltene Mikro. Aber da die Demonstration wohl auf dem Schlossplatz, nicht aber auf den Stufen der Schlosstreppe stattfinden durfte, wurde der Redner von Polizisten unterbrochen und unterm Pfeif- und Buhkonzert seiner Zuhörer und Anhänger von den Polizisten, die man Bullen nannte, fortgeführt. In der Zeitung stand am nächsten Tag, dass der Redner Ewald Kainz nach gründlicher Einvernahme wieder entlassen worden sei.
    Percy stand auf und sagte in einem Ton, der ausdrücken sollte, er meine, was er sagte, nicht ernst: Tu autem. Und ging, so ausdrucksvermeidend wie möglich, hinaus. Das Wichtigste: Er schaute nicht hin zu Ewald. Und war froh, dass er draußen war. Und war auch froh, dass die Routine befahl, bei Luzia Meyer-Horch den Schlüssel abzuliefern. Ihm war heute bei seiner Erzählung heiß geworden. Eine Art

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