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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Ich, liebe Leute, stelle mich vor euch hin, mache den Mund auf und zu und bin gespannt, was der Mund jetzt wieder sagen wird. Die Götter würden es für eine Beleidigung halten, wenn ich irgendwann vorbereitet hätte, was ich euch sagen will. Dann würde ich euch jetzt ja nicht sagen, was ich euch jetzt sagen will, sondern das, was ich irgendwann vorbereitet habe. Auch dieses Problem habe ich dem Professor vorgetragen. Und er: Das sei schon dem jungen Nietzsche ein Problem gewesen. Der habe es deshalb für unmöglich gehalten, dass ein Philosoph Professor sein könne, verpflichtet, immer am Mittwoch und am Freitag um 10 Uhr 15 öffentlich zu sprechen. Damit beraube er sich, habe Nietzsche gesagt, seiner herrlichsten Freiheit, nämlich der, seinem Genius zu folgen, wann der und wohin der ihn haben will. So der Professor. Würde also der Mund, weil ich kühn genug bin, die Vorratskörbe zu verbrennen, würde der Mund jetzt gleich auf- und zugehen, ohne noch etwas zu sagen, dann käme ich euch vor wie ein Fisch, den es ans Land geworfen hat, und jetzt japst er. Was dann? Mein Mund würde nach einer Zeit nicht mehr auf- und zugehen, nicht mehr japsen, er schlösse sich. Kein Wort mehr. Es wäre still. Still zwischen uns. Es herrscht Stille, sagt man. Dann würde also zwischen uns Stille herrschen. Bitte, das wäre prima. Vorausgesetzt, dass ihr mitmachen würdet, die Stille herrschen zu lassen. Ich will euch nicht erpressen. Wenn dieser oder jener und diese oder jene einem Lachreiz nachgeben möchte, bitte. Ich schlage die Stille nicht vor, dass ihr sie mitmachen müsst. Begreift aber, dass die Stille jetzt eintreten muss. Das kennt ihr auch. Man sagt: Dann trat Stille ein. Noch besser wäre es, wenn man sagte: Dann trat die Stille ein. Die Stille hört man, daran kann niemand zweifeln. Ich glaube, ich sehe sie auch jetzt, darum sage ich: Jetzt tritt die Stille ein.
    Es hob ihm wieder die Arme, die Hände, den Kopf, den Blick. Über die den Saal umlaufende Galerie hinauf. Zur gewölbten Decke. Das geordnetste Durcheinander der Welt, hatte der Professor gesagt, als er die Pflegerschüler den Bibliothekssaal sehen ließ.
    Irgendwann hörte die Hochgerichtetheit auf, zerfiel, er stand wieder, wo er stand.
    Liebe Leute. Das Erlebnis des Verstandenwerdens ist das heftigste Erlebnis überhaupt. Dank Mutter Fini. Wenn Mutter Fini nicht an mich glauben würde, könnte ich an niemanden glauben. Und an nichts. Würde also niemanden verstehen. Und nichts. Wenn niemand an dich glaubt, kannst du an niemanden glauben. Glauben kann nur, wer erlebt hat, dass an ihn geglaubt wird. Das kann nicht gewollt werden. Und was ist das denn: Jemand glaubt an dich? Das sagt dir: Du darfst sein, wie du bist. Immer. Das habe ich erlebt durch Mutter Fini. Von Anfang an. Ich darf sein, wie ich bin. Wenn ich das sage, merke ich, wie es mich jetzt bestimmt. Ich habe kein bisschen Angst vor euch. Spürt ihr das auch, ihr, jeder und jede, wir? Das Seindürfen, wie wir sind. Jetzt. In diesem Augenblick. Angstlos. Alle.
    Er hörte auf. Er schaute nirgends mehr hin. Er stand, die Hände hingen an ihm herab. Er spürte eine Richtungslosigkeit. Eine Zeit lang. Dann redete er weiter. Er hörte sich sagen: Ich bin mit allen per Du. Manche spotten darüber. Ich spotte da gern mit. Mein Du heißt: Ich glaube an dich. Und damit sind nicht weniger gemeint als alle.
    Und hörte wieder auf. Wieder war er weder leicht noch schwer. Dann hörte er sich sagen:
    Träumend verbring ich die Tage,
    trübe Ahnungen forschen in mir,
    die Wahrheit verschenk ich.
    Wenn sie wiederkommt,
    verwandle ich sie
    in etwas Erträgliches.
    Er ging so strikt, so entschieden auf die Empore, dass alle wussten: die Orgel. Percy hatte sich in eine Stimmung hineingeredet, in der er nicht bleiben konnte. Er illustrierte seine Stimmung ziemlich krass, suchte aber auch Hilfe bei einem Mai-Motiv:
    Maria durch ein’ Dornwald ging.
    Er spielte so, als müsse er einen Knäuel, einen Knoten aus verschiedenen Bändern und Stricken und Schnüren lösen. Die Orgel eignet sich zur allmählichen Auflösung eines Knotens, den man selber geschürzt hat. Er bekannte sich dazu, dass er sich zwar gegen das Maria-Motiv wehren musste, dass er aber unterliege. Das Motiv siegte. Das spielte er so, dass die Leute wussten: Jetzt wird gesungen. Und sie sangen:
    Maria durch ein’ Dornwald ging.
    Dann begleitete er sie mit der Orgel hinaus. Als er wie von selbst aufhörte, saß nur noch der Professor in der ersten

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