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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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nach Ulm, werde geflickt und gepflegt; bis die Reha vorbei ist, wird es Ende März. Nach so viel Arzt- und Pflege-Erfahrung denk ich, weil ich noch keinen Beruf habe: Werde doch einfach Pfleger. Einer empfiehlt mir: Pflegerschule Scherblingen. Ich schreib hin. Leider zu spät für dieses Jahr. Die Aufnahmeprüfungen sind Ende März, alles ist schon terminiert. Vorübergehende Entmutigung. Aber ich kann wieder gehen. Der erste Gang natürlich zu meinem Retter Pfarrer Studer. Ihm erzähl’ ich alles. Und er: Mit Augustin Feinlein ist er in Biberach in die Schule gegangen. Den ruft er an. Ich werde zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Und in die Schule aufgenommen auch. Und dazu Orgel und dazu Latein und durch das Latein dann das immerwährende Du. Kürzer lässt sich’s nicht sagen.
    (Die Leute reagieren beifällig.)
    Fred: Da kann man sagen: Glück gehabt.
    Percy: Kann man.
    Fred: Du sagst das so, als könnte man’s auch noch anders sagen.
    Percy: Stimmt.
    Fred: Und?
    Percy: Oje.
    Fred: Wieder tief in die Mitte.
    Percy: Das nicht. Aber riskant. Irgendwie. Hier.
    Fred: In einer Talkshow?
    Percy: Genau.
    Fred: Heraus damit.
    Percy: Ich bin geleitet.
    Fred: Geleitet? Von wem?
    Percy: Wenn ich nicht zu Pfarrer Studer gegangen wäre, wäre ich nicht Professor Feinleins Schüler geworden, gäb’ es kein Latein und kein Du.
    Fred: Ganz klar.
    Percy: Mutter Fini war auch geleitet. Immer.
    Fred: Ich verstehe.
    Percy: Prima.
    Fred: Und dass du hier in unserer Talkshow gelandet bist, kommt von deiner Geleitetheit.
    Percy: Würde ich nicht so sagen, aber man kann es so sagen.
    Fred: Du hast sicher bemerkt, dass so ein Talkshowmensch immer einen oder oder mehrere Zettel vor sich hat. Er hat sich vorbereitet auf den Gast. Die Zettel für dich hat nun Susi. Mit denen könnte ich sowieso nichts anfangen. Susi, wenn du wieder übernehmen willst, sagst du’s einfach.
    Susi: Ich bin bedient. Vorerst.
    Fred: Weil wir uns immer mit einander vorbereiten, habe ich mitgekriegt, dass du dich auf deine öffentlichen Auftritte und Reden nie vorbereitest, du bist auch dagegen, dass jemand, was du sagst, aufnimmt, abschreibt, drucken lässt, das heißt, du bist gegen unser ganzes hochentwickeltes Kommunikationssystem.
    Percy: Ich bin gegen nichts.
    Fred: Das klingt ganz schön umarmerisch. Bei unseren Vorbereitungen auf dich ist uns natürlich aufgefallen, dass du aber doch auch gegen etwas bist, nämlich gegen vorbereitetes Reden.
    Percy: Lass es mich in die Nähe bringen. Ihr, Susi und du, bereitet euch vor auf eure Gäste, dann seid ihr vorbereitet, dann redet ihr nicht mehr mit euren Gästen, wie sie dann da sind, sondern mit den Menschen, auf die ihr euch vorbereitet habt. Ein Mensch ist in jedem Augenblick alles, was er sein kann. Wenn man ihn reduziert auf das, was man über ihn wissen kann, ist es möglich, dass auch er selbst sich nachher produziert als die Datei, die ihr aus ihm gemacht habt.
    (Vereinzelt Beifall aus dem Publikum.)
    Ich kann ja gar nichts dagegen haben, dass so verfahren wird, hier und anderswo. Ich sage nur, ich möchte nicht vorlesen, was ich irgendwann gedacht und geschrieben habe. Verstehst du. Wenn ich selber anwesend bin. Selber erscheine. Wenn ich nicht dabei bin und es wird etwas gelesen, was ich nicht geschrieben, aber unvorbereitet gesagt habe, bitte. Das ist dann doch ein Dokument eines Augenblicks, in dem ich so und so anwesend war, lebendig war, gelebt habe. Dagegen kann ich nichts haben. Nur, wenn ich persönlich anwesend bin vor anderen Anwesenden, dann sind wir zusammen ein Lebensaugenblick. Dann sind wir alle mit einander eine Anwesenheit, wie sie noch nie war und nie mehr sein wird. Und dieser Einzigartigkeit will ich zu entsprechen versuchen, indem ich bin, wie ich jetzt bin. Egal, wie ich sonst war und sonst sein werde.
    (Das Publikum stimmt zu, ziemlich lebhaft.)
    Ich bin immer darauf angewiesen, dass es anderen auch so geht wie mir. Für diese – ich übertreibe –, für diese Heiligung des Augenblicks habe ich einen Helfer, Augustin. Heiliggesprochen. In seinen Bekenntnissen, die er im Jahr 399 nach Christus geschrieben hat, kann man lesen: Der Zweck meiner Bekenntnisse ist nicht etwa der zu erzählen, wie ich war, sondern wie ich bin.
    Bitte, stellt euch vor, Bismarcks Erinnerungen oder die von Adenauer würden nicht erzählen, was die Politiker getan und geleistet haben, sondern der Ehrgeiz dieser Erinnerungsschreiber wäre nur, uns mitzuteilen, wie sie jetzt gerade beim Memoirenschreiben

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