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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Sie das, was Ihnen Ihre Mutter gesagt hat?
    Percy: Ich glaube, dass Mutter Fini es glaubt.
    Susi: Und Sie?
    Percy: Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich es nicht da und dort erwähnt.
    Susi: Sollen wir Ihnen das glauben?
    Percy: Du nicht. (Das Publikum lacht.) Kein Mensch außer mir muss das glauben. Aber jeder und jede tut so, als sei, was mir Mutter Fini gesagt hat, ganz und gar unmöglich. Einfach unglaubhaft. Ich erlebe, wie in jedem und jeder ein Widerlegungseifer wach wird. Warum ertragen sie nicht einfach, dass das meine Sache ist. Meine und Mutter Finis Sache. Dürfen wir etwas nicht glauben, weil andere nicht daran glauben wollen oder können? Glauben, das ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Bei Musik weiß jeder: Manche sind musikalisch, andere nicht. So mit der Glaubenskraft. Manche können nur glauben, was sie auch wissen können. Offenbar gibt es Menschen, die können nur mit Gleichungen leben, die aufgehen. Glauben, das ist eine Gleichung, die nie aufgeht. Manchmal möchte ich laut aufschreien aus nichts als Glaubensübermut. Wenn ich allein bin und niemand es hört. Ich muss mich beherrschen, meinem Glaubensübermut freien Lauf zu lassen, solange Leute in der Nähe sind, die mich hören könnten. Der Glaubensübermut ist die hellste Lebensstimmung, die ich kenne. Bis jetzt. Ich habe natürlich die ganze Lebensfülle noch nicht erlebt. Aber im Glauben erfahre ich, wer ich bin. Wahrscheinlich. Es gibt keine zwei Menschen, die dasselbe glauben. Jeder hat nur seinen Glauben. Der Glaube, das ist die Handschrift der Seele.
    (Das Publikum reagiert.)
    Susi: Dass Sie mit Nazareth konkurrieren, ist Ihnen bewusst?
    Percy: Ich weiß nicht, was das ist: konkurrieren.
    Susi: Spielen Sie jetzt den Naiven?
    Percy: Ich weiß nicht, wie das geht: den Naiven spielen.
    (Im Publikum wird gelacht.)
    Susi: Sie sind inzwischen schon eine Art Berühmtheit, Schlafsack-Therapie, Spontanpredigten, berühmt, aber eigentlich unbekannt. Sie lassen sich in eine Talkshow einladen, wissen, dass ein Millionenpublikum Sie sieht. Das heißt, Sie wollen werben. Für Ihre, sagen wir einmal, Sache. Nach allem, was wir über Sie herausgebracht haben, hat es mich gewundert, dass Sie sich in einer Talkshow zeigen.
    Percy: Wenn ich jetzt in deinem Stil antworten würde, müsste ich sagen: Jesus ist auch in den Tempel gegangen.
    Susi: Um die Händler zu verjagen.
    Percy: Richtig.
    Susi: Das heißt, Sie sind gekommen, um uns die Leviten zu lesen.
    Percy: Ich habe gesagt, wenn ich in deinem Stil sprechen würde, würde ich so sprechen.
    Susi: Ich muss gestehen, dass es mich ein bisschen nervt, von Ihnen andauernd geduzt zu werden.
    Percy: Dann verbiet es mir halt.
    Susi: Verbieten liegt mir nicht. Aber ich bitte darum, von Ihnen nicht mehr geduzt zu werden.
    Percy: Einverstanden. Dann lassen wir’s.
    Susi: Sie wollen mit mir nicht länger sprechen?
    (Percy nickt.)
    Susi: Das habe ich gewusst, dass das danebengeht. Fred!
    Fred: Ja, Susi?
    Susi: Bitte.
    Fred: Gern, Susi. Percy!
    Percy: Ja.
    Fred: Mich kannst du duzen, solange du willst.
    (Im Publikum wird gelacht.)
    Ich finde Dein Du-Sagen interessant. Darf ich fragen, was es bedeutet, dass du zu allen Du sagst?
    Percy: Oje! (Schweigt)
    Fred: Bitte, du kannst auf jede Frage mit Oje! antworten. Mich hätte es interessiert.
    Percy: Oje, sag ich, weil die Antwort in die Mitte führt. Tief hinein in mein Leben.
    Fred (weil Percy schweigt): Ja? War’s das, oder kommt noch was?
    Percy: Das ist überhaupt meine Hemmung. Wenn ich etwas sage, das führt immer zu weit. Viel zu weit.
    Fred: Probier’s.
    Percy (jetzt sehr beschleunigend, er will das hinter sich bringen): Nach dem ich Latein gelernt hatte, habe ich nicht mehr Sie sagen können. Latein habe ich gelernt bei Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein. Er leitet das Psychiatrische Landeskrankenhaus Scherblingen und unterrichtet dort an der Pflegerschule. Und hat mir Latein und Orgel beigebracht. Außerhalb des Lehrprogramms. Nach Mutter Fini ist er für mich der wichtigste Mensch geworden. Aber wie bin ich hingekommen zu ihm? Weil ich zu Fuß gehe. Immer. Überall. Also werde ich am 24. Dezember im Wald zwischen Merklingen und Brauchlingen in der Dämmerung bei Schneetreiben von einem Auto gestreift, in den Graben geschubst, kann aber meinen Hut an meinem Stock noch in die Straße hineinhalten, dass der Pfarrer Chrysostomus Studer, der von einer Kindergarten-Bescherung heimfährt, mich beziehungsweise meinen Hut sieht, Hilfe holt, ich komme

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