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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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mich, wenn sie so jäh abhaut, lächerlich benehmen werde. Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Dass ich sie schön finde, habe ich nie erlügen müssen. Sie hat es mir nicht mehr geglaubt. Dass ich sie bewundere, bewundere, bewundere …
    Ich habe ihr zu beweisen versucht, dass sie der wertvollste Mensch sei. Niemand, kein Mann und keine Frau, sei so voll des Werts wie sie. Anders könne ich es nicht sagen. Wenn das Wort Wert noch einen Sinn habe, dann nur durch sie.
    Was ich dachte, kam von den Wänden zurück. Wo ist sie? Es ist unvorstellbar. Sie ist zur Zeit jeden Abend fort. Aber jedes Mal weiß ich, Wangen oder Markdorf oder Judas Maccabaeus.
    Seit Monaten. Aber heute ist nicht Judas Maccabaeus. Für Judas Maccabaeus nimmt sie jedes Mal Abschied. Und summt mir noch ins Ohr Mourn, ye afflicted children, the remains of Judah, mourn in solemn strains. Und drückt mich an sich und reißt sich los. Aber heute … ihr Auto ist da, ihr Fahrrad ist da …
    Wie viel man ihr gegenüber falsch machen kann, hat sie mir deutlich genug gesagt, wenn sie erzählte, was Adalbert von Rauch, genannt Berti, falsch gemacht hat. Dieses Von-ihm-angefasst-Werden. Berti griff einfach an ihre Brüste, wenn er an ihr vorbeiging. Eine Routine, die nichts bedeutete. Wenn sie das aussprach, sagte er, sie sei eben unlebendig. Sie sah ein, dass ihm vorschwebte, eine Frau müsse in jedem Augenblick bereit sein, sich erregen zu lassen. Auch wenn der, der sie erregen will, selber ganz unerregt ist. Ihm macht es einfach Spaß, seine Frau im Vorbeigehen anzulangen. Reagiert sie anders, als er es erwartet, belegt er sie mit dem schwersten Vorwurf. Sie soll hören: Wenn du so bist, geh ich. Es gibt Frauen, lässt er sie spüren, die auf meine Berührung zärtlich reagieren, worauf man selber auch zärtlich werden könnte, und sie dann noch zärtlicher, und so weiter. Das ist das Leben, das sie nicht hat, also bei ihm verhindert … Diesen Text hat sie in vielen Bemerkungen gehört, wenn sie auf seine sogenannten Zärtlichkeiten nicht so zärtlich reagieren konnte, wie er das wollte.
    Ich war in ihren Beispielen mehr auf Adalberts als auf ihrer Seite. Das wagte ich aber nicht zu gestehen. Sie erzählte mir Derartiges doch sicher, um mich zu warnen.
    Jetzt hat sie es nicht mehr ausgehalten. Sie weiß alles. Das Schlimmste ist eingetroffen. Sie wird wieder betrogen. Sie ist allwissend. Gefühlsallwissend. Das hat sie nicht mehr ausgehalten. Sie will nichts beweisen. Sie kann nur nicht mehr. Und beweist mir, ohne das zu wollen, dass ich nicht leben kann ohne sie. Nie mehr Silvi. Silvi ist alles Mögliche. Silvi ist toll. Aber ich brauche sie nicht. Sie braucht mich nicht. Elsa und ich sind angewiesen auf einander. Ohne Elsa ist alles nichts.
    Ich kann weiterhin in den Seilen hängen. Den Alkoholschleier dichter ziehen. Ein Einwickelpapier bin ich für eine Ware, die verdorben ist. Alles, was ich noch an Kraft habe, wird fürs Verschleiern, Verbergen und Weglügen verbraucht. Elsa, vorgestern: Dass ich sie nie belügen werde, wisse sie, aber glauben könne sie’s nicht. Das müsse ich ertragen, wenn wir zusammenleben wollten, und nichts als das wolle sie.
    Sie hat mir oft genug gesagt, ja gestanden, dass sie unfähig sei zu lügen. Nicht immer sei sie das gewesen. Aber durch diesen Mann sei sie unfähig geworden zu lügen, weil sie durch ihn erlebt habe, was für eine Vernichtungskraft das Lügen habe. Der Belogene wird, wenn er erkennt, wie er belogen worden ist und wie er das Erlogene geglaubt hat, für wahr, für echt gehalten hat, wenn er das einsieht, nie mehr etwas, was zu ihm gesagt wird, glauben können. Die Vernichtung der Glaubensfähigkeit, das ist das, was die Lüge vermag. Zum Glück, sagte sie dann, gibt es noch etwas anderes als die verhunzbare Sprache. Auch wenn sie mir kein Wort glaube, einfach, weil sie nichts Gesagtes mehr glauben könne, sie glaube mir aber jede Bewegung, jede Geste, jeden Blick, ja, jeden Atemzug. Da erlebe sie, dass ich sie liebe und wie ich sie liebe. Und wenn’s drinnen nichts zu lieben gibt, liebe sie jedes Gras im Garten. Hat sie gesagt. Und: Die Amselfrau hüpft immer her, wenn ich mich im Garten irgendwo aufhalte. Hat sie gesagt, als sie noch da war.
    Elsa kam. Ich sagte nichts. Sie sagte, sie finde es lieb, dass ich mich betrinken müsse, bloß weil sie von einer Nachbarin gerufen worden sei. Zu Hilfe gerufen. Du kennst sie doch, die Zilli. Ihr Mann habe seine Freundin ins Haus gebracht. Zilli habe schon

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