Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
zwei Nächte im Liegestuhl hinter dem Wachholderstrauch übernachtet. Jetzt werde es aber kühl. Sie habe sie im Patientenzimmer untergebracht. Und sie habe noch bei ihr bleiben müssen. Zur Beruhigung. Ich sagte, dass ich ohne sie nicht leben könne. Sie verschloss mir den Mund. Lass doch die Wörter, sagte sie. Nachher entschuldigte sie sich für ihre Abwesenheit. Zilli habe jetzt zweiundzwanzigmal Chemo hinter sich. Und elfmal Hyperthermie. Und dann bringt der die Freundin ins Haus.
    Wenn man die Unwahrheit sagt und es wird einem geglaubt, das tut weh: mit einer Lüge durchzukommen. Wenn einem nicht geglaubt wird und man muss die Lüge mit viel Aufwand verteidigen, und es wird einem immer noch nicht geglaubt, dann darf man spüren lassen, es werde einem unrecht getan. Eine Lüge ist am wenigsten moralisch zu werten. Sie hat Substanz. Sie produziert Wirklichkeit. Das Leben muss liefern, was die Moral verweigert.
    Ich bin nur noch eine Lügenmaschine. Ich lüge nicht nach beiden Seiten gleich. Die Differenz liefert mir eine moralische Legitimität.
     
    Traum: Der rechte Schneidezahn bricht glatt ab. Und ich habe etwas vor. Das muss ich absagen. Ich kann das nur mit der Hand vor dem Mund mitteilen.
     
    Er hört, ob sie, wenn er anrief, einen Mann oder eine Frau gegenüberhat. Wenn es ein Mann ist, hört sich ihre Munterkeit ihm gegenüber immer übertrieben an, künstlich. Ist es eine Frau, spricht sie einfach in dem Ton weiter, in dem sie gerade gesprochen haben kann.
    Auf die Wange geküsst … Das ist nicht Silvis Stil. Zur Zeit viel an der Backe, das ist ihr Stil. Also log sie. Herr Habernuss tendiere wieder sehr. Und noch mehr leide er.
    Silvi: Mein Herz hat nicht schneller geschlagen, als er hereinkam. Das ist eine präparierte, für ihn gemachte Aussage.
    Keiner von uns kann sich über sich erheben, um zu sehen, was er tut.
     
    Elsa auf der Terrasse, abends: Veilchen duften abends stärker. Und: Ich lege meinen Arm um dich als Schal. Und: Der Wind macht mit den Bäumen ein Konzert mit viel mehr Tönen, als man ihm zutraut. Und: Die Vögel sticken ihre Töne hinein.
    Was sie sagen kann, nur weil ich ihr zuhöre. Da darf ich mich gemeint fühlen, wenn sie sagt: Solange man im Freien liegt, genügt es, das zu gestehen.
    Und dann sagt sie auch noch: Zum Glück ist nichts wahr.
    Da kann ich endlich sagen: Je tiefer du den Schnittlauch abschneidest, desto voller kommt er wieder, hast du gesagt.
    Das ist wahr, sagt sie.
    Gestern hat sie mir die Mausefalle entgegengestreckt. Darin eine ganz kleine Maus. Tot. Jetzt sind wir bestraft, hat Elsa gesagt.
     
    Silvi: Ich gehe hier die Wände hoch, und du kniest dort vor jedem Piepser nieder.
    Dass der Schriftsteller noch nie etwas Positives über ihre Kleider gesagt hat. Es mache ihr aber nichts aus. Dass sie das so sagt, sagt alles.
    Als sie das erzählt hatte, plötzlich: Weißt du, was ich tue, während ich dir das erzähle? Sie hat es nicht bemerkt, aber jetzt bemerke sie es. Sie hat ihre Hand …
    Welche?, fragte er.
    … die Rechte, hinten in die Hose geschoben und einen Finger hineingesteckt.
    Silvi: Ich würde dir nicht ununterbrochen an die Wäsche gehen.
    Die Verkäuferin zu Silvi: Also das hätte sie nicht gedacht, nach der 36er-Hose, als sie die Brust sieht, 75 C.
    In der Stadt sieht er nur noch Paare, wo der Mann den Schirm über die Frau hält. Und schaut immer zu spät weg.
    Wie sie mit ihm spricht. Herablassend – therapeutisch – pflegerisch. Er ist sechzig. Der Schriftsteller zweiundsiebzig.
    Einsamkeit ist Ideologie. Es genügt Alleinsein.
     
    Dass er sofort wieder aufgelegt hat, muss ihr sagen, dass er das war. Also muss sie zurückrufen. Tut sie aber nicht. 18 Uhr 10, nichts, 18 Uhr 20, nichts, auf dem Hausapparat auch nichts, in der Praxis auch nichts. Also noch einmal das Handy und gleich wieder auflegen. Wenn sie jetzt immer noch nicht tickt! Zweimal hat er sich jetzt blamiert. Ihr Apparat meldet ihr das. Ach, lass es doch. In die Wanne mit heißem Wasser und dann geritzt und auslaufen.
    Silvi: Nervensäge. Lacht dabei. Aber gesagt ist es doch.
     
    Wenn Elsa von ihren Proben zurückkommt, singt sie, kann sie nicht aufhören zu singen. Wenn sie dann doch aufhört, sagt sie, dass sie den ganzen Abend lang nur andere zum Singen gebracht habe, ohne selber wirklich zu singen. Wenn sie singt, ist sie … ist sie … Sie hat eine Stimme, ihre Stimme schwingt, der Raum schwingt mit, ihre Stimme ist eine Gewalt, eine Kraft, eine Übermacht, sie

Weitere Kostenlose Bücher