Muttersohn
durchschaubaren Gründen. Das ist natürlich nicht so. Ich fliege immer wieder nach Rom, um mich der Aufdringlichkeit gewisser Bilder und Statuen auszusetzen und um in gewissen Kirchenräumen zu atmen. Wenn ich einmal bis zum Rückflug im Locarno-Zimmer bleiben würde, käme ich mir groß vor. Aber so groß, wie ich mir dann vorkäme, bin ich nicht.
Also auf und in die Stadt! Hinaus aus der kleinen Via della Penna, in der das Locarno von früher träumt. Dann immer hinunter auf der Via di Ripetta. Dann bin ich schon fast, wo ich hinwill: Sant’ Agostino. Dass der Straßenname nach Wiederholung klingt, tat mir gut. Dann führt die Straße doch noch an einem Platz vorbei. Ich musste mich orientieren. Und dieser Moment der Unsicherheit genügte, den Strohhutmann herzuzaubern. Er stand jetzt an den edlen Palisaden, die den Platz von der Straße trennen. Das Trottoir führt an den wie Lanzen hochragenden Palisaden entlang. Und ich kam auf diesem Trottoir auf den zu. Er stand und schaute quer über die Straße, auf der der Verkehr mit der Natürlichkeit eines Flusses vorbeitrieb. Ich musste also, wenn ich nicht direkt an ihm vorbeigehen wollte – und das wollte, das konnte ich nicht –, ich musste mich durch Autos, Motorroller und Radfahrer durchkämpfen, hinüber auf das andere Trottoir. Ich schaffte es mit ums Leben bittenden Fuchteleien. Und war drüben. Musste aber doch noch zurückschauen. So lange, bis ich durch den vorbeiflutenden Verkehr hindurch alles gesehen hatte. Der stand also vollkommen bewegungslos. Von seiner rechten Hand führte ein solider Draht hinunter aufs Trottoir, führte zu einem Hund aus Draht, deutlich ein Dackel. Neben dem Dackel der Geigenkasten. Offen. Neben dem Geigenkasten ein Paar Schuhe. Der Mann barfuß. Es war offensichtlich, dass man Geld in den Geigenkasten zu werfen hatte. Passanten, die nicht, wie ich, ausgewichen waren, taten das.
Es gibt ja jetzt Menschen, die stellen sich in Metropolen auf belebteste Punkte und verharren reglos. Man soll sie für Kunstwerke halten. Aber es gibt auch Statuen, die aussehen wie stehengebliebene Menschen. Man soll sie für Menschen halten. Der da drüben irritierte mich. Aber was ging er mich an? Ich war ihm entkommen. Hatte er noch den Kordanzug an? Das karierte Hemd … Noch einmal: Was ging er mich an? Ich war doch in Rom. Ich hatte ein Ziel. Die Basilika Sant’ Agostino. Zu meinem Namenspatron wollte ich, durfte ich, musste ich. Aber Rom ist, wo du hinschaust, schön. Du brauchst gar kein Ziel. Es kann an keinem Ziel schöner sein, als es überall ist. Und schon stand ich vor einem Schaufenster, in dem nichts zu sehen war als eine einzige Krawatte. Und ich blieb stehen und schaute. Dieses Schaufenster war kein bisschen zu groß für eine einzige Krawatte. Die Krawatte war fast unwichtig. Gut, sie war schön, aber sie war hauptsächlich schön, weil das ganze Schaufenster kein bisschen zu groß war, ihr zu dienen. Ein Schaufenster aus der Zeit, als die Schaufenster noch menschliche Maße hatten.
Ich spielte jedes Mal, wenn ich in meine Basilika ging, mit dem Gedanken, gar nicht hinzugehen. Vorbei an ihr. Weg von ihr. Aber jedes Mal bog ich hinein in die Via della Scrofa. Obwohl das ein Wort mit einer Physiognomie ist, also ein Wort, das einem etwas sagt, ohne dass man’s übersetzt – ich schlug dann doch einmal nach. Heißt Sau. Na ja, die ganze Gegend heißt ja auch Campo Marzio.
Die Freitreppe zur Basilika des heiligen Augustin stürmte ich hinauf. Jedes Mal. Als wäre ich sechsunddreißig und nicht dreiundsechzig. Drinnen so dunkel wie im Locarno. Schon deshalb möchte das Hotel einen dazu verführen, einfach dazubleiben. Ich ging wie immer ins linke Seitenschiff und dort zum ersten Altar, zur Madonna dei Pellegrini. So heißt das Bild von Caravaggio, das den Altar bestimmt. Man steht dann genau auf dem Punkt, von dem aus Caravaggio das Bild angeschaut haben wird: schräg hinter den zwei Pilgern, die vor der Madonna knien und zu ihr hinaufschauen. Nicht weit hinauf, die Madonna steht nur eine Stufe höher als die zwei Knienden. Ein Mann und seine Frau. Ein wenig verdeckt der Mann seine rechts von ihm kniende Frau. Er füllt das Bild. Er ist mindestens so wichtig wie die Madonna, zu der beide beten. Barfuß kniet er, Hosen erst ab den Knien. Seine zwei nackten Sohlen sind so wichtig wie das ein wenig herabgeneigte Gesicht der Madonna und wie das lebhafte Interesse, mit dem das Kind auf das Pilgerpaar hinabschaut. Die Stöcke der
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