Muttertier @N Rabenmutter
Schatz, kannst du aufstehen?«
»Mein Arm! Mein Arm! Auaaaaaa!«
»Till. Schnell, zieh deine Schuhe an. Wir fahren zum Arzt.« Ich prüfte noch kurz, ob der Herd ausgeschaltet war – eine Katastrophe am Tag reichte völlig – und stürzte aus dem Haus, den brüllenden Jan im Arm.
Wir müssen ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, wie wir da beim Arzt an der Anmeldung standen. Till hatte sich in der Eile die Schuhe falsch herum angezogen, ich hatte die Haare noch vom Kochen mit einem unmodischen Haargummi in neongrün, eines meiner letzten Überbleibsel aus den 80ern, nach hinten gebunden und hielt den mittlerweile etwas leiser schluchzenden Jan auf meinem Arm. Dank dieses erbärmlichen Anblicks blieb uns weiteres Warten erspart. Wir wurden sofort in ein freies Behandlungszimmer gewunken. Während Frau Dr. Herold Jan untersuchte, versuchte ich, das Klappern meiner Zähne zu unterdrücken, was mir jedoch nicht gelang, sodass es deutlich zu hören war.
»Ich denke, der junge Mann hat Glück gehabt. Meiner Meinung nach ist der Arm nur geprellt, nicht gebrochen. Sicherheitshalber überweise ich Sie noch zu einem Unfallarzt. Der soll den Arm röntgen. Aber die Mama sieht auch ganz und gar nicht gut aus.« Dieser eine Satz des Mitgefühls reichte, um mich zum Heulen zu bringen. Ich weinte und schluchzte hemmungslos. Mit dieser Reaktion hatte Frau Dr. Herold wahrscheinlich nicht gerechnet. Sie schickte die Kinder mit der Sprechstundenhilfe und mehreren Tütchen Gummibärchen ins Wartezimmer. »Ist das nur der Schreck oder bedrückt Sie noch etwas anderes? So kenne ich Sie ja gar nicht.«
»Ich … weiß … nicht …, was … mit … mir … los … ist«, brachte ich unter Tränen hervor. Frau Dr. Herold äußerte zunächst gar nichts. Sie ließ mich erst einmal zur Ruhe kommen und hinterfragte dann meine momentane Gefühlslage. Schließlich sagte sie:
»Was halten Sie davon, sich einmal Rat bei einem Profi zu holen?«
»Rat vom Profi klingt gut«, antwortete ich, froh, dass jemand erkannte, dass es mir nicht gut ging.
»Gut. Dann stelle ich Ihnen noch eine Überweisung zu einem Psychotherapeuten aus. Wäre doch gelacht, wenn wir Ihnen nicht helfen könnten.« Mit gemischten Gefühlen nahm ich die Überweisung entgegen. An so eine Art Profi hatte ich nicht gedacht. Ich war doch nicht plem-plem! Nur etwas abgespannt, was ich wohl in Anbetracht meiner Situation auch sein durfte. Ein Wellness-Wochenende im Schwarzwald hätte mir sicher mehr helfen können als so ein Psycho-Heini. Andererseits war ich in diesem Moment für jede Hilfe dankbar und beschloss, dass es einen Versuch wert war.
Einige Tage später saß ich im Wartezimmer von Herrn Dr. Masurka, bereit, mir bei der Wiederherstellung meines Seelenfriedens helfen zu lassen. Es war mein erster Besuch in einer psychotherapeutischen Praxis. Ich sah mich im Wartezimmer um. Auf einem Tisch lagen die üblichen Zeitschriften, die Wände zierten zwei riesige Leinwände. Die eine war fast vollständig weiß. Mit roter Farbe hatte jemand darauf geschrieben: Mach kaputt, was dich kaputt macht. Die andere Leinwand war komplett mit roter Acrylfarbe angemalt. Ich vermutete, dass das Wartezimmer auch für die Gruppentherapie genutzt wurde. Insgesamt machte die Praxis einen etwas chaotischen, ungeordneten Eindruck auf mich. Ich hatte das spontane Bedürfnis, die achtlos verstreuten Zeitschriften zu ordnen und die Stühle in eine Reihe zu schieben. Ich widerstand dem Drang jedoch, weil ich befürchtete, dass es sich um einen Test handeln könnte. Vermutlich wurde ich beobachtet und wenn ich jetzt wie eine Besessene die Zeitschriften alphabetisch ordnen würde, könnte ich mir gleich mein Ticket in die geschlossene Abteilung abholen. Ich musste über mich selbst lachen.
»Frau Anders bitte.« Herr Dr. Masurka war etwa Mitte 50, etwas kleiner als ich und von hagerer Statur. Mit neutralem Gesichtsausdruck bat er mich in sein Sprechzimmer. Wenn ich das Wartezimmer schon als unordentlich empfand, so übertraf das Sprechzimmer alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Mich beschlich leichte Sorge, jemand hätte in der Nacht in die Praxis eingebrochen und nach einem bestimmten Dokument gesucht. Der Schreibtisch lag voll mit Papieren, jedoch nicht auf Stapeln, sondern wild durcheinander, als hätte jemand Aktenordner darüber ausgeschüttet. Die Farbe der Schreibtischplatte blieb verborgen, es war nicht ein Fleckchen davon zu sehen. Das Chaos setzte sich unter dem Schreibtisch
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