Muttertier @N Rabenmutter
Verlieren können wir nämlich gar nicht. Aber bei zwei Mannschaften verliert nun mal bei jedem Spiel jemand. Und das war ausgerechnet an seinem Geburtstag zu viel für ihn. Bei jedem Punkt für die andere Mannschaft ist er zusammengebrochen. Wie konnte mir so ein Fehler passieren? Alle anderen hatten aber viel Spaß. Ein Spiel, das ich hier aus diesem Grund niemals anbieten werde, ist die Reise nach Jerusalem.
Ich düse jetzt schnell und hole Till von seiner Feier ab. Ein Power-Ranger-Geburtstag. Ich bin gespannt, ob er mit neu erlernten asiatischen Kampftechniken nach Hause kommt.
Viele liebe Grüße
Maxi
3
Die Wochen vergingen und ich hörte nichts von meinem Arbeitgeber. Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht, denn die Tage waren von früh bis spät mit Terminen der Kinder ausgefüllt. Vormittags pendelte ich mit Jan zwischen Krabbelgruppe, Musikgarten, Krankengymnastik und Kochen hin und her. Nachmittags fuhr ich Till zu seinen Freizeitaktivitäten. Freizeitstress für Kinder? Ich empfinde es eher als Stress für die Mutter. Die Kinder lassen sich gemütlich von einem Event zum nächsten chauffieren, während die liebe Mama sich fast zerreißt, um allen Verpflichtungen pünktlich nachzukommen. Und dass diese ganzen Verpflichtungen unerlässlich für eine erfolgreiche Zukunft der Kinder sind, wird uns von allen Seiten suggeriert. Der Kinderarzt erläutert, dass eine Mitgliedschaft im Turnverein über Hauptschule oder Gymnasium entscheidet, ebenso sieht das die Musiklehrerin in Bezug auf ein Instrument. Natürlich achten wir darauf, dass unser Kind die Zahnspange regelmäßig trägt, denn wir wollen ja nicht, dass es später unter Migräne leidet, und sich mit 30 schon nicht mehr richtig bücken kann.
»Sie müssen danach schauen, dass Till die Übungen täglich macht. Wir wollen doch nicht, dass er später in der Schule Nachteile hat«, ermahnte mich Ruth, Tills Physiotherapeutin, an einem Donnerstag Ende März. Der Donnerstag war generell mein Horrortag. Wenn ich Till früh zum Kindergarten gebracht hatte, ging ich mit Jan in die Krabbelgruppe. Danach hatte er Krankengymnastik. Meine Söhne haben beide meine Beine geerbt. Ich habe starke X-Beine, Senk-, Platt-, Spreiz-und Knickfüße. Als Kind musste ich Einlagen tragen. Meine Mutter ging zweimal im Jahr mit mir zum Orthopäden und ich weinte bei der Auswahl der Sommerschuhe, weil offene Sandalen mit Einlagen einfach nicht gingen. Das war alles. Heute weiß man, dass man im Kindesalter sehr viel mit geeigneten Übungen ausgleichen kann. Nach der Krankengymnastik musste ich mich sehr beeilen, das Mittagessen zu kochen, um Till noch rechtzeitig vom Kindergarten abholen zu können. Danach fuhr ich auch ihn zur Krankengymnastik und anschließend zur Musikschule. Am Donnerstagabend fühlte ich mich regelmäßig wie mehrfach durch den Fleischwolf gedreht. Ich schlief in der Regel auf dem Sofa ein, sobald die Kinder im Bett waren, und hörte Alex noch brummen: »Immer schläfst du gleich ein und ich sitze hier ganz allein.« Ich hasste die Donnerstage.
»Ja. Wir bemühen uns, dass er die Übungen täglich macht«, beteuerte ich und beschloss, beim Ausfüllen des Hausaufgabenhefts in Zukunft ein wenig zu mogeln. Bis dahin hatten wir in das Heft ganz genau eingetragen, wann Till seine Übungen gemacht hatte. Und jede Woche wurden wir darüber informiert, dass das tägliche Training entscheidend für seinen schulischen Werdegang sei. »Jetzt müssen wir uns aber beeilen. Sonst kommen wir zu spät zur Musikschule. Tschüss, Ruth, bis nächste Woche. Wir werden jeden Tag üben. Till, du solltest doch schon deine Schuhe anziehen. Wir kommen zu spät. Jan, komm von dem Traktor runter. Wir müssen los. Also, tschüss, Ruth. Kinder, kommt! Wir sind schon zu spät!« Ruth schob mich wahrscheinlich in die Schublade ›Überdrehtes Muttertier‹, das sich in Nebensächlichkeiten verzettelt und den Blick für das Wesentliche, nämlich die Physiotherapie der Kinder, verloren hat.
Leider dachte das auch Annemarie, Tills Musiklehrerin, als ich Till genau dreieinhalb Minuten zu spät bei ihr abgeben wollte.
»Du Maxi, das geht so nicht weiter. Ich möchte dich bitten, in Zukunft früher zu kommen. Eine Musikstunde ist ein Musikstück für sich. Das ist eine musikalische Einheit, die nicht gestört werden darf. Ich kann den Till in Zukunft nicht mehr mitmachen lassen, wenn die Stunde schon angefangen hat.«
›Halt mal den Ball flach. Das hier sind nicht die Berliner
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