Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
nur ansatzweise den gleichen Charakterzügen und dem gleichen Temperament wie sie selbst hätte ihr vermutlich schon früher die Meinung gesagt, wäre möglichst weit von ihr weggezogen und hätte ihr von dort nur ab und zu mal eine Postkarte geschickt.
Doch nichts von alledem ist passiert. Ich wohne nicht allzu weit entfernt, Postkarten schreibe ich ihr nur aus dem Urlaub, und bei Streitigkeiten zwischen uns ärgere ich mich meist erst später mit meinen Leidensgenossen lautstark.
Als ich etwa achtzehn Jahre alt war, hatten Muddis Mutti, also meine Oma, und ich wie jeden Donnerstag eine Verabredung zum Kochen. Seltsam, schon damals war der Donnerstag ein fester Termin in der Woche.
Während ich gerade dabei war, eine rote Paprika zu entstielen, erzählte ich meiner Großmutter davon, wie schwer das Leben einer Achtzehnjährigen wäre, wenn sie noch zu Hause wohnte und sich wie ein Kleinkind behandelt fühlte. Mit der Leidenschaft einer Heranwachsenden und meiner schon damals ausgeprägten Fantasie schmückte ich meine Erlebnisse hemmungslos aus. Auf diese Weise wollte ich meine Oma von der Schwere meiner Leiden überzeugen.
Angespornt durch meine Erzählungen und Klagen, machte sie plötzlich ihrem eigenen Ärger Luft und rief: »Als Kind war sie schon genauso schlimm!«
Und so trat meine Großmutter unerwartet dem Muddi-Club bei, dessen Mitglieder ihre Erfahrungen mit Muddi austauschen und darin Bestätigung und Zuversicht finden. Was meine Großmutter mir erzählte, war Balsam auf meine Seele, oh ja!
Durch das, was sie mir nun anvertraute, gewann ich wichtige Erkenntnisse über meine Mutter. Ich staunte zunächst. Dann beschloss ich, Informationen zu sammeln, die ich eventuell später einmal in Auseinandersetzungen mit Muddi taktisch nutzen konnte. Wissen ist Macht!
»Weißt du, Laura«, sagte meine Oma, »deine Mutter hat mich schon als Kind zur Weißglut gebracht. Ich erinnere mich noch heute gut an den Tag ihrer Einschulung. Als ich mit ihr nach der Einschulungsfeier nach Hause ging, durfte ich nicht auf der gleichen Straßenseite gehen wie sie. Sie schrie mich vom gegenüberliegenden Bürgersteig an: ›Bleib, wo du bist! Ich will hier alleine laufen!‹«
Meine Oma schüttelte den Kopf, und ich dachte: Ha, das also ist die Muddi, die mir selbst nicht die geringste Rebellion zubilligt! Soso!
»Als sie sich als Neunjährige eine Strumpfhose anziehen sollte«, plaudert Muddis Mutti weiter aus dem Nähkästchen, »hatte sie das Gefühl, die sei zu kurz. Sie lamentierte eine halbe Stunde lang darüber, dass es eine Zumutung sei, ihr diese Hose ›andrehen‹ zu wollen. Ich glaube, sie benutzte Wörter wie ›Frechheit‹ und ›unglaublich gemein‹. Letztendlich musste ich ihr die Hose bis unter die Achseln ziehen. Und weil sie selbst dann noch meckerte, hab ich sie vor lauter Wut an zwei Seiten der Wollhose hochgehoben und auf ihr Bett geworfen, sodass sie mit Schwung wieder hochfederte.«
Ich musste daran denken, wie meine Mutter mir am letzten Sonntag gesagt hatte, dass sie es eine Frechheit fände, dass ich immer zu meinem Vater hielte. Dabei hatte ich ihm bloß recht gegeben, als er ihr gesagt hatte, er habe einem anderen Auto nicht die Vorfahrt genommen, so wie Muddi anmerkte – wir waren nur knapp einem Unfall entgangen, doch mein Vater hatte keine Schuld. Eine Strumpfhose hatte sie allerdings dabei nicht angehabt.
Sehr sprechend ist auch die Geschichte, die meine Oma mir erzählte, während sie damit beschäftigt war, die von mir entkernten Paprikafrüchte mit Hack zu füllen: Muddi hatte eines Nachts ihren Opa damit geärgert, dass sie ihn immer wieder weckte. Tatsächlich musste meine Mutter meinen Urgroßvater dermaßen getriezt haben, dass dieser mitten in der Nacht mit der oftmals angedrohten Rute, die normalerweise ungenutzt an der Wand hing, in der Hand sein renitentes Enkelkind fluchend um den Küchentisch jagte.
Ich nahm mir damals vor, dass ich ab jetzt Ruhe bewahren würde, wenn meine Mutter mich mal wieder bis aufs Blut reizte.
Erst vor Kurzem ist mir wieder eingefallen, dass meine Oma auch eine Geschichte über Muddis Erfindungsreichtum erzählt hatte.
»Deine Muddi wollte mit sechs Jahren immer noch ihren Schnuller behalten«, hatte meine Großmutter gesagt. »Wir haben ihn dann einfach weggeworfen und sie nachts getröstet, wenn sie ohne ihn nicht einschlafen konnte. Tage später haben wir vom Besitzer des Tante-Emma-Ladens an der Ecke erfahren, dass sie einige Male versucht
Weitere Kostenlose Bücher