Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
müssten wir noch einmal zu Vati auf den Friedhof«, fährt meine Mutter fort. »Ich hab am Samstag mit Margot fünf Begonien gekauft. Gott, da wird es aussehen! Alles ist bestimmt noch voller Blätter. Und die Grabgestecke werden inzwischen wohl total vergammelt sein … Ach Laura! Hätte ich deinen Vater doch bloß auf dem großen Urnengrab bestatten lassen. Ich glaube, das wäre ihm auch ganz recht gewesen. Oder was meinst du?«
Ich habe kei-ne Ahnung. Ich schätze, dass es meinem Vater völlig egal gewesen wäre, wo und in welcher Form er Mutter Erde zurückgeführt wird. Er war nicht der Typ Mensch, der sich zu Lebzeiten darum gesorgt hat. Gerade will ich zu einer Antwort ansetzen, da redet sie schon weiter.
»Dein Sohn fragt ja auch nie nach seinem Opi«, sagt sie anklagend. »Dein Bruder übrigens auch nicht.«
Was soll ich dazu sagen? Vielleicht: »Es war wichtiger, dass Jürgen Vati besucht hat, als er noch lebte.« Oder sollte ich lieber ihre Besorgnis wecken, indem ich sage: »Dein Enkelsohn hat seine Koffer für den Flug nach Japan schon gepackt. Er hat keine Zeit für Urnen-Huldigungen.«
Als hätte sie meine Gedanken erraten, wechselt Muddi das Thema. »Philipp hat mir neulich gesagt, dass er immer noch am liebsten in Japan leben würde. Stell dir das mal vor, Laura! Er würde da sogar als Müllmann arbeiten und in so einer Schlafkapsel wohnen, wenn das die einzige Möglichkeit wäre, dort zu leben! Laura, was sagst du dazu?«
Ja, was nur? Dass es mir gefällt, wie konsequent und voller Zuversicht mein Sohn sein Leben plant? Das möchte meine Mutter bestimmt nicht hören. Überhaupt, ich bin ziemlich sicher, dass sie eigentlich gar keine Antwort erwartet.
Und richtig.
»Mich würde da ja gar nichts hinziehen«, fährt sie unbeirrt fort. »Ich finde die Asiaten irgendwie seltsam. Die sind wie die Alt-Preußen. Obrigkeitshörig.«
Ich nicke. Nicken genügt. Denn Muddi hat noch weitere Aufträge für mich. Der Tag ist komplett verplant.
»Wenn wir auf dem Friedhof gewesen sind und die Laubsäcke weggebracht haben, müsstest du mit mir noch meine Kontoauszüge holen. Danach muss ich zur Post und Geld von meinem Sparbuch abheben. Ich weiß nicht, wieso, aber meine Rente ist schon wieder weg. Das macht mich ganz nervös.«
Ich hingegen weiß schon, wieso das so ist. Im letzten Monat hat Muddi die monatliche Rente früher verbraucht als sonst, weil sie einige Handwerkerrechnungen bezahlen musste. Im Grunde bräuchte sie sich aber überhaupt keine Gedanken zu machen: Ihr Girokonto ist stets gedeckt. Und Bargeld hat sie ohnehin mehr als genug in ihrem Haus gebunkert. Ich sage jetzt nicht, wo, aber ich weiß das ganz genau.
Nach einigen Tassen von Muddis wie immer äußerst starkem Kaffee begeben wir uns auf den Weg zum Grab meines Vaters. Wieder fällt mir auf, dass ich ihn noch heute beinah jeden Tag vermisse. Wenn im Radio »Biscaya« von James Last gespielt wird, muss ich jämmerlich weinen. Dieses Lied wurde auf seinen Wunsch hin auf seiner Beerdigungsfeier gespielt. Ebenso »Time to Say Goodbye«, gesungen von Andrea Bocelli. Kein Mensch – sei er auch mit noch so wenig emotionaler Intelligenz ausgestattet – kann diese beiden Lieder ohne reichlichen Tränenfluss überstehen, wenn sie auf der Beerdigung des eigenen Vaters gespielt werden. Und Ereignisse, die mit Musik verbunden sind, bleiben am stärksten in Erinnerung.
Wir parken. Muddi nimmt die Harke, und ich trage die Begonien. Wir gehen eine leichte Anhöhe hinauf zum Friedhof. Muddi atmet schwer.
»Laura, ich weiß nicht, wieso, aber ich schaffe es kaum, diesen Berg hochzulaufen«, sagt sie zwischen zwei Schnaufern.
Ich weiß. Muddi spielt auf ihr Sportlerherz an, das sie sich wie schon gesagt als Zwanzigjährige zugelegt hat, weil sie jeden Tag viermal den Weg zwischen ihrer Arbeitsstätte und ihrem Haus laufen musste. Deshalb stütze ich meine Mutter und ziehe sie ein wenig mit, bis wir das Grab meines Vaters erreichen.
Da liegt er nun. Im Grunde hat er sich dahin »verkrümelt«, denn exakt dort liegt lediglich seine Asche. In einem Behälter. Kaum vorstellbar. Aber so ist es. Mich überfällt jedes Mal eine Verzagtheit, wenn ich vor dem Grab stehe. Ich frage mich tatsächlich, ob mein Vater jetzt vom Himmel aus zusieht, wie seine Witwe die Zweige des Lebensbaums stutzt und ich reglos danebenstehe. Zuzutrauen wäre es ihm, dass er auf einer Wolke sitzt und schmunzelnd beobachtet, wie wir uns unterhalten … oder besser: wie Muddi
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