Mutti packt aus
Arsenal an kleinen Blöcken, bunten Stiften, Luftballons und tollen Überraschungen mit mir, um den Einjährigen über den Verlust meiner Aufmerksamkeit hinwegzutäuschen, die dem lesenden Dichter auf der Bühne galt. Ich tauchte unter den bösen Blicken der anderen einfach weg und war stets bereit, genervtes Stöhnen mit stolzem Augenfunkeln zu retournieren. Ich durchstreifte weitläufige Bibliotheken mit einem Kind an der Hand, das mithilfe ausgeklügelter Bestechungspraktiken tatsächlich sekundenlang schwieg. Berufliche Einladungen zu Tagungen und Konferenzen quittierte ich selbstbewusst mit der Frage nach doch wohl hoffentlich gebotener Kinderbetreuung, von der ich in Divenmanier mein Erscheinen abhängig machte. Meine flammenden Plädoyers galten unauffindbaren Wickeltischen auf Männertoiletten, zu schmalen Bustüren und den noch lange nicht ausreichend vorhandenen Rolltreppen in der U-Bahn. Das Kind war immer dabei. Sogar wenn es nicht dabei war, denn am Käseregal bei Aldi schuckelte ich den Einkaufswagen in beruhigendem Rhythmus. Vor spitzeckige Couchtische legte ich schützend die Hand, um imaginäre Kinderköpfe zu schützen. Und einmal schnitt ich einem attraktiven Mann, der mich zum Essen eingeladen hatte, das Fleisch vor. Doch nicht einmal dieser alarmierende Zwischenfall hat mich davon abgebracht, mein Kind überallhin mitzunehmen. Auch nicht einzelne Vertreter des kinderlosen Single-Packs, die im Sommer auf den Gehsteigen der Stadt ihren Latte schlürfen, wenn un sereins mit krummem Rücken und schweren Taschen vol ler Apfelschnitzchen, Wechselwäsche, Ersatzwindel und Trinkflasche den dreifachen Heimweg antritt, mit dem brüllenden Kleinkind im Buggy und dem verzweifelt greinenden Baby im Tragetuch.
Es war mein zweijähriger Sohn selbst, dem ich die blitzartige Erkenntnis verdanke, dass ein Kind nicht überall mit dabei sein muss. Ihn an der Hand und seine Schwester im Bauch betrat ich das Sprechzimmer des Gynäkologen, der zu einer letzten Feindiagnostik des werdenden Lebens gebeten hatte. Ein vaginaler Ultraschall war nötig. Und mein Sohn kommentiert erstaunt: »Oh, Mama tankt.«
Wer lesen kann,
ist stark im Vorteil …
»Nein!«, schreit mein Jüngster. »Nicht schon wieder vorlesen!« Er rollt panisch wie ein scheuendes Pferd mit den Augen und springt vom Sofa, auf das ich ihn mühsam gelockt habe. Das Buch hatte ich sorgsam hinter dem Rücken verborgen, und erst als er sich’s gemütlich gemacht hat, weil er dachte, wir würden jetzt fernsehen, habe ich behutsam das Buch superlangsam hervorgezogen, damit er sich nicht erschreckt. Mit einem kühnen Sprung fegt er den Teller mit Keksen und Apfelschnitzchen zu Boden, rast zur Tür und ist verschwunden. Während ich die Scherben aufsammle, kommen mir fast die Tränen. Diesmal habe ich wohl wirklich etwas falsch gemacht, denn offenbar hasst mein Sohn Bücher. Oder hasst er vielleicht nur mich? Jedenfalls kann er vorlesen nicht leiden. Und darunter leide ich. Denn ich liebe das Lesen, das Vorlesen und Nachlesen. Wo schon eine ganze Phalanx aus Politikern und Pädagogen öffentlich mahnt, dass das Lesen ein universelles Kulturwerkzeug, die Schlüsselkompetenz für Bildungsteilhabe sei und besonders das sinnentnehmende Lesen von Kindern für ausgesprochen förderungswürdig erklärt – bitte, mir muss man das nicht sagen. Ich stehe schließlich keiner buchfernen Familie mit Fernsehhintergrund vor, sondern erfülle meine heilige Aufgabe als erste und wichtigste Vermittlerin von Lesekompetenz mit missionarischem Eifer. Ich weiß, dass Lesefähigkeit und Lernfähigkeit praktisch dasselbe ist. Aber mein Jüngster will nichts davon wissen: Er ist bildungsresistent, librophob oder buchstabentaub. Mit Büchern kann man ihn jagen.
Überambitioniert? Wer? Ich? Nie im Leben! Mir ist ganz egal, ob meine Kinder malen, Klavierspielen, Tore schießen, französisch parlieren oder rechnen lernen, sie brauchen keine Einsteins, Sportasse oder Primaballerinen zu werden und müssen auch nicht die Klassenbesten sein. Nur von einer kleinen Bitte, einem Wünschelchen mag ich nicht lassen: Die Kinder sollen Bücher lieben. Nun ist es wahrscheinlich einfacher, auf Knopfdruck die Zauberformel zu finden, die die liebe Welt zusammenhält, als auf Knopfdruck die Welt zu lieben, wenn auch in Form eines Buches. Aber in meinem vielleicht etwas schlichten Weltbild sind lesende Menschen gut, klug und schön, nichtlesende dagegen hässlich, dumm und böse. Und ich drücke ja auch
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